Prolog
Wütend knallte Christian Münster den Hörer auf die Gabel. Was bildete sich dieser Aushilfssozialist von einem Betriebsratsvorsitzenden denn ein? Immer neue überzogene Forderungen stellte er, immer wieder versuchte er, noch mehr Geld, noch mehr Vergünstigungen und allerlei weitere Dinge herauszuschlagen. Natürlich sollte er sich für die Belegschaft einsetzen, dafür war er da. Aber er musste doch auch die wirtschaftlichen Notwendigkeiten im Auge haben! Es war unvermeidlich, die Standorte in Wesel und Dortmund zu schließen. Sie schrieben Zahlen, die noch roter waren als die politische Gesinnung dieses… Mühsam versuchte er, sich zu beruhigen. Es war doch immer wieder das Gleiche! Warum wurde er denn eingesetzt, um als Krisenmanager eine Firma zu führen? Der Laden war jedes Mal bankrott. Und jedes Mal aufs Neue grenzte jede einzelne Gehaltszahlung an Konkursverschleppung.
Und dann kam irgendein Robin Hood vom Betriebsrat und wollte für seine „armen Arbeiter“ etwas herausschlagen. Nie verstanden diese Typen, dass die Schließung von Werken, das Entlassen von Angestellten, selbst die Zerschlagung von Firmen, Notwendigkeiten waren. Es war schmerzhaft, ja. Aber es war überlebenswichtig.
Wieder einmal hatte er versucht, mit seinem beliebten Vergleich mehr Verständnis zu erreichen: Wenn ein Arm oder ein Bein so sehr geschädigt waren, dass sie nicht mehr zu retten waren, dann wurden sie, um den Menschen zu retten, amputiert. Und nichts anderes tat er! Er amputierte Fertigungsstellen oder Firmen, die nicht mehr zu retten waren. Zumindest nicht mehr im Konstrukt des bestehenden Unternehmens oder Konzerns. Aber immer und immer wieder war er der Böse, die Bestie in Menschengestalt, die nur durch die Welt lief, um Existenzen zu zerstören. Doch daran hatte er sich gewöhnt. Dafür brachte ihm ein Auftrag wie dieser hier, der wohl insgesamt ein gutes dreiviertel Jahr dauern würde, im Erfolgsfall voraussichtlich etwa acht bis zehn Millionen Euro!
Er dachte zurück an das soeben beendete Gespräch mit Lars Sauer, dem Chef des Gesamtbetriebsrats. „Ich wünsche ihnen, dass sie selbst einmal in solch eine Situation kommen, wie unsere Arbeiter und sich fragen, ob ihre Handlungen auch dann noch so richtig sind.“ Hatte er gesagt. Münster zuckte die Achseln. Er war weit davon entfernt, an Flüche und Vodoo zu glauben. Da konnte so ein Roter sagen was er wollte.
Er schaute auf die Uhr. Fünfzehn Uhr – und heute Abend um Acht war das Essen mit dieser Investorengruppe angesetzt, die die beiden Fabriken übernehmen wollte. Das würde voraussichtlich irgendwann in den nächsten zwei Monaten runde zwanzig Millionen frische Liquidität in das marode Unternehmen bringen und darüber hinaus Kosten zu senken helfen. Es war dringend nötig, dass er den Deal zu einem guten Abschluss brachte! Lebensnotwendig für die Firma! Und noch hatte er nichts vorbereiten können, weil immer wieder irgendwer mit irgendwelchen Forderungen kam. Eigentlich hatte er sich schon zum zehn Uhr am Vormittag an die Präsentationsunterlagen begeben wollen. Eigentlich! Doch dann hatte mal wieder ein Meeting das andere gejagt. Erst war ein kurzfristiges Treffen mit der Buchhaltung angesetzt worden. Die waren nicht einverstanden mit seinem Programm, die Rechnungszahlung zu verzögern.
Natürlich kostete es Skonto. Keine Frage! Aber so ein verpasstes Skonto war billiger als das, was sie mittlerweile für einen Bankkredit hinlegen mussten. Zumal sie keinen mehr bekamen! Sie brauchten allerlei Garantien und ähnliche Dinge, um überhaupt noch frisches Kapital zu erhalten. Und es wurde mit jedem Mal schwerer und teurer. Und diese Pfeifen wollten Skonto retten! Ein Tag Liquidität war um so vieles wichtiger als die Einnahme von drei Prozent des Warenwertes – aber bis er das erst einmal verkauft hatte!
Dann kam das Controlling und meuterte gegen seine Neuverteilung der Costcenter. Und schließlich hatte er noch einen kurzfristigen Pressetermin dazwischen geschoben bekommen.
Und dann noch zwanzig Minuten mit diesem Sauer am Telefon. Jetzt wurde es dringend, dass er die Unterlagen vorbereitete. Er rief seine Sekretärin. Sekunden später stand sie vor ihm. Ja, diese Strukturen hier, in seinem unmittelbaren Umfeld, hatte er schon einmal im Griff. Das lief wie eine gut geschmierte Maschine! Wenn die doch in der Fertigung auch so schnell begreifen würden…
„Keine Termine heute Mittag, so lange die Welt noch den allseits bekannten Drehimpuls behält. Sollte ein Tag länger oder kürzer als vierundzwanzig Stunden dauern dürfen sie mich stören. Sonst nicht. Keine Anrufe, keine Besucher, nichts. Ich habe zu tun!“
Er sah sie befehlsgewohnt an. Katharina Gumpers erste Reaktion war ein Nicken. Münster hatte schon früh festgestellt, dass man die Frau zur willfähigen Sklavin erziehen konnte. Kaum war er zwei Tage hier gewesen, da hatten Zuckerbrot und Peitsche bewirkt, dass sie jeder seiner Anweisungen bedingungslos gehorchte.
Sie war eine etwas verschüchterte, leicht untersetzte Frau mittleren Alters. Wie alt sie tatsächlich war interessierte ihn nicht. Wohl etwa in seiner Altersklasse, also Ende vierzig, vielleicht Anfang fünfzig. Dabei hatte sie sich aber nicht annähernd so gut gehalten wie seine Frau.
Sie war leicht untersetzt, hatte strähniges, weitestgehend graues Haar, das früher wohl einmal mittelblond gewesen war. Ihr Gebiss war leicht schief und die Haut hätte so manche Behandlung vertragen können. Als Schönheit konnte man sie nun wahrlich nicht verkaufen. Eher als armes, braves Hausmütterchen im Märchen. Der Typ, der nie etwas gewinnt. Aber sie war treu und zuverlässig. Vielleicht sogar nett – doch das interessierte Münster nicht im Geringsten. Sie sollte Aufträge befolgen – und das tat sie. Gerade war Frau Gumper dabei, auf dem Absatz kehrt zu machen und der Order Folge zu leisten, als sie nach einer viertel Drehung urplötzlich inne hielt.
„Aber“ eröffnete sie mit zittriger Stimme, um dann etwas fester fortzufahren „was ist denn mit ihrem Termin im Krankenhaus?“
Richtig! Das Krankenhaus! Er musste noch bei seiner Frau vorbei schauen. Eigentlich hatte er sich für 17:30 Uhr angemeldet. Dann hätte er noch gute eineinhalb Stunden gehabt, ehe er sich wieder auf den Weg würde machen müssen. Aber er würde es nicht schaffen.
Nachdenklich kaute er an seiner Unterlippe. Andrea ging es in den letzten Tagen nicht wirklich gut. Die Chemotherapie zeigte ihre negative Wirkung. Aber sie war eine Kämpferin, sie würde es schaffen, da machte er sich keine Gedanken. Er kannte Andrea. Seit fast fünfundzwanzig Jahren. Die ließ sich nicht von einer Chemo klein kriegen.
Er konnte sie auch morgen noch besuchen. Heute musste er diese Präsentation fertig bekommen und dann diesen Pfeifen möglichst überzeugend diese maroden Baracken unterschieben. Wenn das klappte war die Firma saniert. Dann konnte er mit seiner Kostensenkungsoffensive in die Vollen gehen und hatte genug Liquidität, den nötigen Puffer zu haben, um die Umschuldung durchzuziehen. Außerdem sahen die Kennzahlen dann besser aus. Es ging heute nicht. Er konnte es drehen und wenden wie er wollte, es war einfach nicht drin. Mit einem Seufzer erwiderte er „Werde ich nicht schaffen. Können sie mich bitte mit meiner Frau verbinden?“
Für einen Moment schien es so, als wolle die unscheinbare Sekretärin aufbegehren. Er begegnete diesem Aufflackern von Gehorsamsverweigerung mit einem strengen Blick.
Sofort sank sie merklich in sich zusammen, brummte ein beschwichtigendes „Sicher, sofort!“ vor sich hin und stürmte geradezu aus dem Büro.
Einen Augenblick sah er ihr nach, dann wandte er sich dem Computer zu. Er rief Diagramme ab und startete eine Abfrage nach den Produktionskennzahlen der beiden Werke.
Gerade war der Computer dabei, diese abzurufen, als eine blinkende Lampe auf dem Telefon anzeigte, dass die Verbindung hergestellt war. Er nahm ab. „Hallo Andrea, wie geht es dir.“
Eine fremde Stimme antwortete „Bitte entschuldigen sie, Herr Münster, ihrer Frau geht es nicht gut. Sie hat ihr Telefon aufs Schwesternzimmer umgestellt. Kann ich ihnen helfen?“
„Sicher“ erwiderte er „indem sie mich zu meiner Frau durchstellen.“
Für einen Moment entstand eine Pause in der Leitung. Dann antwortete die Schwester „Entschuldigen sie, aber das würde ich gerne vermeiden. Gibt es denn etwas Wichtiges?“
Einen Augenblick lang wollte er wütend werden, doch dann beherrschte er sich. Diese Frau konnte nun wirklich nichts dafür. Sie wollte seiner Frau helfen und sie wusste nicht so gut wie er, wie stark sie war. Woher auch? Sie kannte sie ja nur krank…
„Ich danke ihnen dafür, dass sie meiner Frau die nötige Ruhe verschaffen wollen. Aber ich werde es heute leider nicht schaffen, vorbei zu kommen. Wenn ich jetzt komme geht diese Firma hier pleite. Ich würde nichts lieber tun, als ihr beizustehen, aber das lässt sich gerade einfach nicht machen. Das würde ich ihr allerdings gerne selbst sagen. Wäre das wohl möglich?“
Den letzten Satz flötete er geradezu. Doch die erhoffte Wirkung schien er damit nicht zu erzielen.
„Schon wieder nicht?“ antwortete die Schwester offensichtlich fast persönlich beleidigt – wozu sie seiner Ansicht nach nicht den geringsten Grund hatte „Sie waren schon die letzten drei Tage nicht da. Ihre Frau braucht sie.“ Ihre Stimme sollte wohl eindringlich wirken. Doch mit professioneller Analyse stellte er am zittrigen Unterton fest, dass sie eher nervös war. Sie spielte sich auf als die große Retterin!
Das war es, was er jetzt noch brauchte. Eine Krankenschwester, die sich in seine Geschäfte einmischte!
„Weder meine Ehe, noch mein Job gehen sie das Geringste an“ blaffte er „und jetzt stellen sie mich zu meiner Frau durch – oder zum Leiter ihrer Klinik. Ich habe meine Zeit nicht an `ner Jahrmarktbude geschossen!“
Einige Augenblicke lang herrschte ein unangenehmes, gespanntes Schweigen im Hörer. Dann hörte er das bekannte Klicken eines weiter vermittelten Gesprächs. Hoffentlich hatte sich Frau Gumper den Namen dieser impertinenten Person notiert, die sich ihm nicht einmal vorgestellt hatte! Die würde noch von ihm zu hören kriegen!
Es dauerte lange, bis sich etwas tat. Irgendeine Fahrstuhlmusik dudelte im Hörer. Gerade war er darauf und dran, mit seiner Arbeit fortzufahren, da hörte er ein mattes „Hallo Christian“ im Hörer. Er war geschockt, wie gebrochen sich die sonst immer strahlend helle Stimme seiner Frau anhörte. Für einen Moment war er versucht, dennoch hin zu fahren. Wirklich gut schien es ihr in der Tat nicht zu gehen.
Doch dann siegte die Vernunft. „Hallo Schatz. Du, ich will dich nicht lange stören. Ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll. Hier ist die Hölle los. Alle spielen verrückt und ich komme nicht zu meiner Präsentation. Du weißt ja, heute Abend ist der Tag x. Da muss alles stehen. Wenn ich die Hütten verkauft bekomme ist die Firma klar. Wenn nicht wird’s eng. Leider werd ich’s nicht schaffen, heute.“
Ein langes Schweigen antwortete. Er vermeinte, ein Schlucken zu hören, war sich aber nicht sicher. Vier oder fünf unendlich lange Atemzüge später fügte er hinzu „Du pass auf: Heute ist wirklich wichtig. Das mache ich noch, dann komme ich morgen vorbei und Montag nehme ich mir komplett frei und bleib den ganzen Tag bei dir. Wie hört sich das an?“
Er konnte natürlich nicht sehen, wie dicke Tränen die Wangen seiner Frau herunter liefen. Schon wieder kam er nicht. Schon wieder ließ er sie allein. Diese verfluchte Firma! Sollte sie doch Pleite gehen. Sekundenlang rang sie um Fassung. Sie wollte nicht, dass er merkte, dass sie weinte. Sie wollte stark sein. Morgen würde er kommen.
Diesmal wirklich? Und Freitag den ganzen Tag? Das wäre fast zu schön, um wahr zu sein. Er war noch nie einen ganzen Tag im Krankenhaus geblieben.
Er hatte, seit sie hier eingeliefert worden war, noch nie mehr als zwei Stunden hier verbracht. Und sie war schon über zwei Monate hier. Zumindest, so weit sie sich erinnern konnte. Unter der Chemotherapie verlor die Zeit irgendwie an Bedeutung. Die meiste Zeit dämmerte sie vor sich hin. Ihre Gedanken drehten sich nur darum, am Leben zu bleiben – und Christian ab und zu zu sehen.
Übermorgen! Das war doch zu schaffen. Es wäre ein Tag, der ihr wieder die Kraft geben könnte, weiter zu kämpfen. Das war es doch wert, heute zu verzichten. Übermorgen!
„Ist gut“ antwortete sie mit tonloser Stimme. „Ich freu mich auf morgen!“
Erneut stiegen ihr Tränen auf, die sie nur mühsam unterdrücken konnte. Morgen. Übermorgen. Es ging ihr schlecht. Wirklich schlecht! Sie hoffte, dass sie noch langte genug überleben würde. Aber sie wusste auch: Christian war jetzt bei seinem Job. Und von diesem würde sie ihn nicht weg bringen. Nicht in einer solch wichtigen Phase. Es blieb ihr nur, sich an den Strohhalm der Zukunft zu klammern und zu kämpfen.
„Alles klar, Schatz. Bis morgen dann! Du, ich muss jetzt weiter machen. Ich erledige heute den Kram hier und morgen können wir reden, ja. Ich freu mich auf dich! Ich liebe dich!“
„Ich dich auch!“
Was war das? Hatte er ein Schluchzen gehört? Möglich. Frauen waren doch oft so gefühlsduselig. Aber dafür hatte er jetzt keine Zeit.
Mit einem spielerisch gehauchten „Tschüss“ hängte er ein. Irgendwie war er erleichtert. Die Telefonate, ihr abzusagen, fielen ihm immer schwerer. Und dass sie so matt klang machte es nicht besser.
Seine Gedanken glitten zu Andrea. Doch nach einigen wenigen Augenblicken hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er musste jetzt diese Präsentation fertig bekommen. Das war verdammt noch einmal wichtiger!
Christan Münster richtete den Blick auf den Computer und begann, Zahlen in einen Chart einzutragen. Sekunden später ging er in der Bilanz des Unternehmens, in dessen Gewinn und Verlustrechnung und dem Kostenstellenverlust – aber auch der Produktivität – der beiden Werke auf. Andrea war vergessen. Die Firma war jetzt wichtiger.
1. Der Tag danach
Ich nahm einen tiefen Schluck aus dem Weinglas, nicht ohne das Bouquet zu genießen. Der Blick auf den Tisch verriet mir, dass es bereits die dritte Flasche war.
Ich schaute in die tiefrote Flüssigkeit und versank wieder in meinen Grübeleien. Damals, in der Jugend, hatte ich auch oft Wein getrunken. Auch in größeren Mengen, doch nur sehr selten allein. Ich hatte mit Freunden getrunken, mit ihnen geredet, Probleme besprochen, philosophiert oder einfach Späße gemacht. Doch heute waren sie nicht mehr da. Ich hatte sie verraten, hatte mich verkauft.
Sehnsüchtig dachte ich an diese Zeit zurück. Seinerzeit, vor dem Studium, während des Studiums und kurz danach, da hatte ich ein lebenswertes Leben geführt. Sicher, ich musste jeden Cent mehrfach umdrehen, aber ich hatte etwas, was ich mir für Geld nicht kaufen konnte: Ich hatte Zufriedenheit, war glücklich. Warum hatte ich diesem allem entsagt? Ich dachte zurück an mein Studium. Damals war ich sicher, dass es nichts geben könne, das mich von meinen Idealen abzubringen in der Lage sei. Ich hatte Freundschaft und Liebe groß geschrieben, hatte gerne Geld, aber mir war vieles Anderes wichtiger.
Heute aber…. Wieder nahm ich einen tiefen Schluck und mein Spiegelbild im Wein schaute mich verzerrt an. Angewidert schloss ich die Augen.
Ich wollte jetzt nicht weiter denken an das, was aus mir geworden war. Nicht in diesem Moment, in dem sich die Aromen des Weins wohltuend in meinem Mund verteilten. Diese Momente der Erinnerung an alte Zeiten waren mir seit einigen Tagen wieder heilig geworden.
Doch sie waren so flüchtig. Ich griff den Gedanken wieder auf. Heute…. Ja heute war ich ein Diener des Götzengottes, ich war ein Jünger des Geldes und hatte alles, was mir einmal wichtig gewesen war, verraten. Wie war das eigentlich gekommen?
Komisch, ich hatte mir darüber noch nie Gedanken gemacht. Ich versuchte, die Nebel zu vertreiben, die Wein und Zeit in meinem Geiste hinterließen. Ich versuchte in jene Zeit vor etwa zwanzig Jahren zurückzukehren. Was hatte mich dazu gebracht, mich in den wichtigsten Punkten meiner Überzeugungen so zu verändern, so um 180° zu drehen?
Früher hatte ich Menschen für wichtiger als Geld erachtet, etwas, das mir heute abhanden gekommen war. Schockiert über diese Erkenntnis stand ich auf und wanderte unsicher durch den Raum. Ich sah mich mit trüben Augen, die ebenfalls leicht vernebelt waren, um.
Das Wohnzimmer mit der gemütlichen Couchecke, dem massiven Esstisch, den modernen Geräten, die sich so traumhaft in den etwas alten, gemütlichen Charme des Zimmers einfügten.
Tränen schossen mir in die Augen, nie wieder würde ich hier mit Andrea hindurch gehen können. Nie wieder würde sie irgendetwas mit ihrem unnachahmlichen Talent einrichten, Zweckdienlichkeit und Gemütlichkeit zu verbinden.
Sie war alles, was mir noch geblieben war vom alten Leben und jetzt war sie fort. Ich hatte nicht einmal gemerkt, wie krank sie war. Immer hatte sie alles für mich getan. Immer hatte sie sich für mich aufgeopfert, hatte ihre eigenen Interessen zurück gestellt.
Ganz früher, so erinnerte ich mich, hatte mich das gestört. Da hatte ich sie oft genug darauf angesprochen, dies doch zu ändern, auf sich zu achten, sich selbst zuerst zu sehen und dann erst mich. Doch mit der Zeit war mir das abhanden gekommen. Immer mehr war ich in der Einfachheit des bedient Werdens aufgegangen. Immer weniger hatte ich widersprochen, wenn sie alles für mich tat. Bis ich es irgendwann ganz ließ, sie sogar anschrie, wenn sie nicht das tat, was ich wollte.
Ich hatte sie als meine persönliche Sklavin gesehen, hatte sie, die Frau, die ich liebte, die zeitlebens drei Stufen über mich gehört hatte, unter mich gedrückt, hatte sie behandelt, als sei es eine Gnade für sie, dass ich bei ihr bliebe. Und das Schlimmste war, dass sie das offensichtlich glaubte. Ich wollte mir selbst den Schädel einschlagen.
Meine wankenden Beine hatten mich zu dem großen Spiegel getragen, der in der Diele stand. Ich blieb stehen und sah mich an. Noch vor wenigen Wochen, Tagen, ja, selbst zwei Tage zuvor, hätte ich den smarten, erfolgreichen Manager, den gutaussehenden, sportlichen, gepflegten und wohlhabenden Typ gesehen, dem die Welt zu Füßen lag.
Heute sah ich verächtlich auf Einen, der alles im Leben versaut hatte. Er hatte bei den wichtigen Dingen versagt, und ich verachtete diesen Kerl im Spiegel. Er war vielleicht sogar dafür verantwortlich, dass Andrea tot war. Tot.
Vielleicht hätte sie gerettet werden können, wenn ich mit offenen Augen durch die Welt im Allgemeinen und mein Leben im Besonderen gegangen wäre. Aber ich hatte die Warnzeichen, die ich heute deutlich vor mir sah, nicht sehen wollen. Ich hatte ihr gesagt, sie solle sich nicht anstellen, als es ihr schlecht ging. Hatte sie zu Empfängen und Geschäftsessen geschleift und sie sogar angeschrien als wir einmal heimkamen und sie sich „hängen gelassen“ hatte, wie ich damals sagte.
Ich hatte nicht gesehen, dass in ihrem Körper die tödliche Krankheit wütete, hatte sie nicht zum Arzt geschickt, wo sie selber so ungern hinging. Erst als die Symptome so deutlich wurden, als sie ständig Nasenbluten hatte, ihr Gesicht selbst unter der Schminke krank aussah, war sie zum Arzt gegangen.
Das war vor drei Monaten gewesen.
Als sie mir sagte, sie habe Leukämie, wollte ich es nicht glauben. So etwas bekamen nur andere Leute! Das traf einen selbst und das direkte Umfeld nicht! Doch ich fand bald den Weg, dies wieder auszugleichen. Ich redete mir ein – und das mit großer Überzeugung, das sei nicht so tragisch, hatte ich doch von neunzig Prozent Heilungsquote gehört. Schon in meiner Jugend waren hier erstaunliche Erfolge erzielt worden, doch heute starben nur noch Wenige daran.
Doch ich hatte nicht bedacht, dass Andrea erst sehr spät zum Arzt gegangen war. Die Krankheit hatte sich lange, vielleicht Monate, vielleicht noch länger, in ihrem Körper ausbreiten können und war infolgedessen einfach schon zu stark gewesen. Und ihr Körper im Gegenzug zu geschwächt.
Aber vielleicht hätte sie es dennoch geschafft, wäre ich für sie da gewesen. Doch was hatte ich Vollidiot getan? Hatte ich sie unterstützt, ihr Halt gegeben, war für sie da gewesen? Ach wo, ich musste mich ja in meine Arbeit flüchten.
Wie oft hatte ich sie besucht? Zehn Mal? Fünfzehn Mal? Naja, vielleicht waren es auch zwanzig. Sie rang mit dem Tode und ich erzählte ihr, es gäbe da diesen ganz schwierigen Auftrag, den ich zu managen hätte. Sie hatte sich nicht einmal beschwert. Sie hatte mich sogar noch bedauert dafür, dass ich soviel Arbeit hätte.
Sie, die Todkranke, die alles Recht gehabt hätte, dass ich mich wenigstens in ihren letzten Tagen nochmals um sie gekümmert hätte, hatte mich bedauert! MICH! Abfällig sah ich den Typ im Spiegel an. Ich merkte gar nicht, dass ich wie ein Baby heulte. Ich fühlte Wut in mir aufsteigen.
„Halbmensch!“ schrie ich mein Spiegelbild an. „Wie konntest du Trottel so dämlich sein? Du hast sie umgebracht!“
Wütend spie ich meinem Spiegelbild ins Gesicht. Doch obwohl es natürlich genauso hemmungslos heulte wie ich, hatte ich das Gefühl, es grinse mich hämisch und abfällig an. Ich griff neben mich und meine Hände fanden einen schweren Aschenbecher auf der Kommode. Ich holte aus… und dachte daran, dass das ihr Spiegel war.
Wie könnte ich den zerstören? Ich ließ den Aschenbecher fallen und sank hemmungslos heulend zu Boden.