Prolog
Pete blickte sich um. Es war beeindruckend.
Irgendwie fand er es erhebend, was er sah. Er stand auf einem Berg, oder besser einer kleinen Anhöhe.
Er war jung. Er sah sehr gut aus, sportlich, mit einem markanten, frischen Gesicht und unglaublich ausdrucksstarken Augen, die das Wissen und die Weisheit von Jahrhunderten zu verströmen schienen.
Er fühlte eine Macht in sich, die mit nichts vergleichbar war, was es jemals auf Erden gegeben hatte. Keine politische, keine militärische Macht, nein, die Macht des Lebens selbst. Er selbst konnte über Leben und Tod entscheiden. Frei von allen natürlichen Grenzen.
Er konnte mit einem Fingerzeig das Leben geben – oder nehmen!
Er war ein Gott!
Von seiner Anhöhe sah er auf sein Volk herunter.
Menschen.
Viele Menschen.
Unglaublich viele Menschen!
Von einem Horizont bis zum anderen erstreckte sich eine unübersehbare amorphe Masse, von der er nicht zu erkennen in der Lage gewesen wäre, was es war.
Aber er wusste, dass es sich um Menschen handelte. Um eine unübersehbare Anzahl davon. Und keiner hatte mehr Platz für sich als den, auf dem er gerade stand.
Er sah auf sie herunter und sie schienen ihn anzubeten. Der begrenzte Platz schien ihnen nicht bewusst zu sein, die Enge schienen sie nicht zu spüren.
Sie huldigten ihm.
Doch irgendetwas war falsch. Er konnte es nicht fassen, es war mehr ein Gefühl. Er blickte sich um und bemerkte, was es war. Die Menschen waren verschwunden. Es war irgendwie ein anderer Hintergrund, ein falscher Hintergrund.
Er stand da, immer noch strahlend vor Jugend und Schönheit – und um ihn herum erhob sich ein gigantisches Gebirge. Es war nicht zu überschauen, von unermesslichen Ausmaßen.
Und es reichte bis in den Himmel und darüber hinaus.
Er bewegte sich an dessen Steilwänden nach oben, er schwebte, gleich einem Engel – vielleicht allerdings einem apokalyptischen Engel – daran empor.
Höher und höher stieg er.
Mehr und mehr konnte er von der Welt sehen – und alles, was er sah, waren diese schier endlosen Bauten. Denn um solche handelte es sich.
Wolkenkratzer, die bis in den Weltraum hinein zu reichen schienen. Unbegrenzt, monumental, bedrückend, kalt.
Und hinter den Fenstern sahen ihm dicht gedrängte Menschen entgegen.
Hunderte.
Aus jedem Fenster! Es mussten zigmilliarden sein, die sich auf dieser Welt befanden. Und er wusste, es wurden immer mehr.
Wieder wandelte sich seine Umwelt. Er stand wieder auf seinem Berg, das Meer seines Volkes vor sich.
Die Macht in ihm erfüllte sein ganzes Denken und Fühlen.
Und gleichzeitig war da Scham.
Er seufzte und wollte zu sprechen anfangen.
Er wollte sie einmal mehr zu Verstand und Enthaltsamkeit aufrufen, wollte einmal mehr verkünden, dass sie nicht so viele Kinder bekommen dürften – wenn niemand mehr starb!
Er wollte ihnen sagen, dass sie bitte ihre Kraft darauf verwenden sollten, vorwärts zu gehen und die Menschheit voranzubringen.
In den Weltraum, in die Meere.
Sie brauchten viel, viel mehr Lebensraum, und diesen mussten sie sich erschließen.
Dann konnten sie auch wieder Kinder bekommen.
Er frage sich, warum sie ihn immer noch bewunderten und nicht lynchten! Schließlich war er selbst letztlich für das alles hier verantwortlich. Die Menschen waren zu kurzsichtig, um mit einem Geschenk wie der Unsterblichkeit richtig umgehen zu können.
Er hob zum Sprechen an.
Doch irgendwie konnte er nicht.
Er musste eine unglaublich laute Stimme übertönen, die aus dem freien Raum, aus den Bergen, aus ihm selbst zu kommen schien.
Sie redete unverständliches, zusammenhangloses Zeug.
Und Banales.
Sie redete in diesem bedeutungsschwangeren Moment von … einem Schokoriegel?!
Verwundert blickte er sich um.
Die Menschen um ihn herum hingen an dieser Stimme und nahmen ihre Botschaft auf.
Verzweifelt wollte er schreien, wollte sie zur Vernunft bringen.
Dazu, diese Stimme zu ignorieren, sie zum Schweigen zu bringen, ihm zuzuhören, ihr Leben umzustellen – doch niemand schien ihn zu hören.
Niemand schien auf ihn hören zu wollen.
Es war zum Verrücktwerden!
Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er war kurz davor zu verzweifeln.
Pete schreckte aus dem Schlaf.
Die Werbung im Radiowecker dröhnte weiter.
Sein Herz schlug wie wild.
Mit einem tiefen Aufatmen ließ er sich in die Kissen zurücksinken. Er schloss noch einmal die Augen und brachte seinen rasenden Herzschlag langsam unter Kontrolle. Sein Körper war schweißgebadet.
Wieder einmal hatte er einen solchen Traum gehabt.
Wieder einmal hatte sein Unterbewusstsein ihm mit aller rücksichtslosen Gewalt die innere Zerrissenheit deutlich gemacht, unter der er litt. Einmal mehr hatte ihn seine Arbeit eingeholt.
Seit sie den großen Durchbruch geschafft hatten, seit der Affe wieder gesund war, hatte er diese Träume.
Immer und immer wieder.
Was früher als reine Utopie in seinen Schlaf gedrungen war, das ermächtigte sich jetzt Morpheus’ Reiches mit einer perversen Mischung aus Angst, Freude, Abscheu, Vorfreude und Schuldbewusstsein – sowie nicht zuletzt einem korrumpierenden Allmachtsgefühl. Dieses blieb immer als eindrücklicher Nachhall in ihm und Pete schämte sich auch dafür. Doch letztlich war er nur ein Mensch.
Er konnte sich nicht dagegen wehren und bei nüchterner Betrachtung war, was er geschafft hatte, eine unglaubliche Leistung und vor allem etwas, woraus er fast grenzenlose Macht und Bewunderung ableiten konnte – wenn er wollte! Mit einem tiefen Seufzen richtete Pete sich auf und schleppte sich ins Bad.
Er drehte die Dusche auf und stellte sich reglos darunter. Das warme Wasser prasselte auf seinen Kopf und mit geschlossenen Augen, mühsam mit weit geöffnetem Mund durch den Wasserfall vor seinem Gesicht atmend, wartete er darauf, dass es seine Wirkung tat.
Kapitel I
Ein klein wenig kehrte sein Kreislauf zurück. Ein klein wenig war das Leben wieder in ihm. Und mit jeder Minute kehrten mehr seiner bewussten Gedanken zurück.
Als er die Dusche abgeschaltet und sich abgetrocknet hatte, war es einmal mehr so weit.
Er nahm seine Umwelt nicht mehr bewusst wahr. Seine Gedankenwelt kreiste um DNA, Immunreaktion, Telomere, Reparaturenzyme und Alterung. Wie in Trance verlief die Morgentoilette und als er beim Kaffee saß, konnte er einmal mehr nicht sagen, wie er überhaupt hier hingekommen war – geschweige denn, wie es der Kaffee geschafft hatte.
Er frühstückte, ohne wirklich etwas davon wahrzunehmen, und griff nach der Zigarette. Obwohl er das Rauchen schon vor Jahren aufgegeben hatte, hatte er es nie geschafft, keine Zigarette hinter dem Ohr klemmen zu haben. Lange hatte er sich gewehrt, mit dem Rauchen aufzuhören. Die Politik gängelte Raucher weltweit seit Jahrzehnten in einem Maße, dass es schon an Lächerlichkeit grenzte. Doch je mehr man Raucher diffamierte, ausgrenzte und den Konsum verteuerte, desto mehr war er in seiner Überzeugung bestärkt worden, es fortzuführen. Erst als ihm sein Arzt vor fünf Jahren ein beginnendes Lungenkarzinom entfernt hatte, da hatte er beschlossen, nach rund dreiunddreißig Jahren aufzuhören. Und es war ihm leichter gefallen, als er gedacht hatte. Er hatte praktisch von einem Tag auf den anderen keine einzige Zigarette mehr geraucht.
Doch der Glimmstengel hinter dem Ohr, der hatte ihm gefehlt, als er ihn hatte weglassen wollen. Wenn er nachdenklich war, dann fingerte er ihn oft hervor und spielte damit, ohne zu rauchen.
Er war an diese Übersprunghandlung derart gewöhnt, dass seine Leistungsfähigkeit darunter gelitten hatte. Also entschied er, dass man kein Raucher sein musste, um sich eine Zigarette hinter das Ohr zu klemmen, und hatte diesen Brauch zur Verwirrung seines Umfeldes konsequent durchgezogen.
Überall bei INTERGENE kannte man ihn als überragenden Wissenschaftler, als Koryphäe der Molekularbiologie – und als den „Kippenmann“. Pete lächelte darüber und ihm gefiel dieses bivalente, genial-verschrobene und etwas verwegene Image.
Kurz blickte er beim Herausgehen in den Spiegel. Sein ehemals dunkelbraunes, mittlerweile weitgehend ergrautes Haar war kurz geschnitten. Sein akkurater Scheitel gab ihm einen korrekten Anstrich und er hatte heute den sonst üblichen Laborkittel gegen einen Anzug getauscht. Dieser war einige Jahre alt und entsprach nicht mehr der neuesten Mode. Aber was sollte es …
Auch, dass er längst nicht mehr richtig saß, weil Pete seit Jahren nicht mehr die Zeit gefunden hatte, Sport zu treiben, störte ihn nicht. An Schultern und Oberarmen war das Jackett viel zu weit geworden. Seine mittlerweile leicht gebeugte Gestalt wirkte etwas verloren in dem Kleidungsstück, dass er sich gekauft hatte, als er noch täglich mindestens eine Stunde schwimmen gewesen war. Heute tat er das höchsten alle zwei Wochen einmal. Seine Tausend-Meter-Zeit hatte in den besten Jahren klar unter zwanzig Minuten gelegen.
Heute musste er sich abmühen, um die vierundzwanzig Minuten zu halten. Doch er schwor sich, das würde sich wieder ändern. Er würde seine alte Fitness wiederbekommen. Er würde diesen Anzug, einst eine Maßanfertigung, wieder ausfüllen!
Mit einer kräftigen Bewegung fuhr er sich durchs Haar, wobei er automatisch darauf achtete, die Zigarette hinter dem Ohr nicht wegzuwischen.
Dann holte er tief Luft, verließ die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu. Er fuhr mit dem Aufzug in die Garage und stieg in seine Individualkabine.
Das Paneel vor ihm leuchtete auf und eine wohlmodulierte Stimme erkundigte sich nach seinem Zielort. Er gab das Büro an und ergeben setzte sich das Gefährt in Bewegung.
Heute würde der Tag der Entscheidung sein.
Heute würde der Tag sein, an dem sich sein Leben voller Arbeit und Visionen entscheiden würde.
Nein … Er verbesserte sich.
Heute würde er einen Stolperstein aus dem Weg räumen müssen. Er konnte an diesem Tag nichts gewinnen – aber alles schon jetzt verlieren!
Wie immer verbrachte er die Fahrt mit dem Studium der Aufzeichnungen des Vortages. Bei den Affen gab es noch immer keine Komplikationen. Die Zellanalysen zeigten eine Teilungstätigkeit, die Jungtieren lange vor der ersten Geschlechtsreife nicht nachstand.
Die Gensequenzierung zeigte bei der gesamten Stichprobe von dreihundert Zellen wie auch in den letzten Wochen schon Telomere, die so lang waren, wie es zur Geburt der Fall gewesen war.
Und auch eine Übertragung hatte nicht stattgefunden. Es war das gleiche Ergebnis wie bei den Ratten. Es gab einfach keine Komplikationen. Die Geräte funktionierten viel besser, als er es sich in seinen kühnsten Träumen erhofft hätte.
Wie ein kleines Kind, das ein Wunder immer und immer wieder betrachten muss, rief er sich die Bilder der Affen auf. Es war, als ließe man einen Zeitrafferfilm über die gesamte Lebensdauer eines Individuums rückwärts laufen.
Auf den ersten Aufnahmen waren es gebrechliche Wesen. Mehr tot als lebendig. Alt. Einfach nur alt. Verbraucht. Dem Tode nahe. Und dann kehrte von Bild zu Bild das Leben, die Spannkraft in sie zurück. Die Züge glätteten sich, wurden vitaler, der Ausdruck stärker, die Auge, sowie das strahlender. Das Grau wandelte sich zu einem kräftigen Schwarz. Und irgendwann hörte es einfach auf.
Die Affen veränderten sich nicht mehr. Seit jetzt einem halben Jahr. Sie waren vital, wie man es sich nur vorstellen konnte.
Und kein Fehler ließ sich entdecken.
Achtundzwanzig Jahre der Forschung waren an ihrem Ziel angekommen. Achtundzwanzig Jahre der Geheimhaltung würden bald enden. Endlich konnte er über seine Arbeit reden! Das würde es ihm ermöglichen, erstmals seit seiner Einstellung bei INTERGENE wirkliche soziale Kontakte zu pflegen. Endlich musste er keine Angst mehr haben, sich zu verplappern.
Es würde alles enden. Bald!
Pete dachte an die vielen Entbehrungen der letzten Jahre. Er dachte daran, dass er eigentlich sieben Tage die Woche gearbeitet hatte. Sein letzter Urlaub war so lange her, dass er sich gar nicht daran erinnern konnte. War es 2042 gewesen? Oder 43?
Damals hatte er eine Woche Hawaii gebucht und war nach vier Tagen wieder abgereist, weil er es nicht ausgehalten hatte, so lange von seinen Forschungen wegzubleiben. Der Strand war ohnehin nicht seine Sache. Es war ihm zu warm und ins Wasser wollte er auch nicht.
Obwohl er wusste, dass die Gefahr wesentlich geringer war, als zu ertrinken oder sogar vom Blitz getroffen zu werden, so hatte er panische Angst vor Haien. Im Wasser fühlte er sich eigentlich wohl. Er schwamm gern – aber nur in künstlichen Pools. Schon ein See machte ihm ein mulmiges Gefühl. Er wusste nicht, was da unter ihm in den Tiefen war. Er konnte es nicht sehen und das Gefühl der Machtlosigkeit, des Ausgeliefert-Seins, das damit einherging, war nichts für ihn.
Er hatte es mit dem ehernsten Gesetz der Menschheit aufgenommen: Dass alles Leben irgendwann endet – vielleicht von Einzellern abgesehen. Er hatte den Tod, die Alterung besiegt. Er war der Inbegriff der Kontrolle über die Welt. Einem Tier in seinem Lebensraum ausgeliefert zu sein, war ihm unerträglich. Selbst wenn es nur eine hypothetische Möglichkeit war.
Also hatte er seinerzeit die Koffer gepackt und war abgereist. Er hatte drei weitere Tage zu Hause verbracht und lediglich einige Stunden länger geschlafen, ehe er angefangen hatte zu arbeiten.
Und das hatte er in den folgenden Jahren beibehalten. Seinen Urlaub nahm er – ebenso wie seine Wochenenden. Aber es waren nur Tage, an denen er zumindest manchmal darauf verzichtete, ins Büro zu fahren. Vieles konnte er in der vollvernetzten Welt auch daheim erledigen. Und das tat er dann. Zwar schlief er gelegentlich einige Stunden länger und stand erst um neun Uhr auf, manchmal sogar noch etwas später – doch dann setzte er sich an die Arbeit.
Jack Watson, sein Vorgesetzter, hatte ihn einmal zu sich zitiert und darauf bestanden, dass er seinen Urlaub nehme, um sich zu erholen. Pete hatte ihm daraufhin „angeboten“, sich selbständig zu machen und sein Wissen verschiedenen Firmen auf Honorarbasis verfügbar zu machen. Das hatte den Professor sehr schnell zum Einlenken bewegt. Und über die Jahre waren sie sich auf beruflicher Ebene immer näher gekommen, was auch daran lag, dass Pete ihm die „Abfallprodukte“ seiner eigenen Forschungen zur Verwertung überließ.
Er hatte kein Interesse, Lorbeeren für eine zielgerichtete Immunsuppression einzuheimsen, mit der man einem Menschen praktisch jedes Spenderorgan einpflanzen konnte, ohne dass dieser danach Abstoßung fürchten musste oder sich im Lebenswandel einzuschränken hatte.
Es interessierte ihn nicht, seinen Namen damit verbunden zu wissen, dass man Krebsgeschwüre vollständig beseitigen konnte. All dies waren tolle Sachen – aber es waren Abfallprodukte seiner Forschungen. Er wollte den Homerun! Er wollte alles. Er wollte keine Zeit damit verschwenden, ein im Prinzip fertiges Produkt zur Marktreife zu bringen, ellenlange Tests durchzuführen und so weiter. Das konnte Jack Watson, mit dem ihn zwischenzeitlich eine distanzierte Freundschaft verband, genauso gut.
Der Menschheit wurde geholfen. Das war sichergestellt. Und die Firma schlug ihren Profit daraus. Jack war für den Nobelpreis vorgeschlagen gewesen und es war alles andere als ausgeschlossen, dass er ihn einst bekäme.
Auch Pete war durchaus daran interessiert. Aber er wollte ihn mit seinem Projekt holen.
Er wollte den Tod besiegen.
Er wollte den Jungbrunnen bauen.
Er wollte es sein, dessen Namen man mit nichts Geringerem verband als der Unsterblichkeit!
Seine Gedanken wanderten wieder zu den Diagrammen vor ihm. Keine Immunreaktion, keine Geschwüre, keine Probleme bei der Synthese der Hormone.
Die Affen hatten begonnen, neue Leber- und Hirnzellen auszubilden. Der ganze Körper erholte sich. Und er tat es schnell.
Auch das Ergebnis der kardiologischen Tests lag nun vor. Das Herz-Kreislauf-System aller Versuchstiere arbeitete auf Hochtouren. Die Affen waren physisch in perfekter Konstitution.
Nicht im Traum hätte er damit gerechnet, dass es so glatt gehen könne.
Solange sie sich regelmäßig in der Nähe der Induktionsschleifen aufhielten, so dass die Replikatoren aufgeladen wurden und die nötige Energie hatten, zu arbeiten, waren diese Affen aller Voraussicht nach unsterblich.
Er hatte es geschafft!
Eine tiefe Erregung durchfuhr seinen ganzen Körper. Jetzt musste nur Jack Watson zustimmen und sie mussten den Termin bei der Kommission bekommen.
Pete dachte an die Ethikkommission, vor der er würde aussagen müssen.
Er hatte die Unterlagen vor einem Monat bereitgestellt. Es war eine umfangreiche Präsentation, eine unglaublich komplexe Datei mit allerlei multimedialem Aufwand. Das war der Tatsache geschuldet, dass es nicht einfach war, einem nicht am Projekt Beteiligten – zumal wenn er kein Molekularbiologe mit entsprechender Spezialisierung war – klarzumachen, dass seine Geräte Viren produzierten, die die menschliche DNA in ihrer Urform enthielten. So, wie sie bei der Geburt eines Menschen gewesen war, dem das Gerät eingepflanzt würde. Mit allen Telomeren, ohne Kopierfehler, ohne Zerstörungen. Und dass die Viren diese ursprüngliche, frische, korrekte DNA in die Zellen transportierten.
Zumindest das Wie und die Frage, warum es ungefährlich war, bildeten hier eine gravierende Schwierigkeit. Ein Eingriff in die Gene bereitete den Menschen seit jeher Sorge. Schon genetisch veränderte Nahrungsmittel galten noch heute als anrüchig. Wie musste man da nur über eine Manipulation des eigenen Erbgutes denken? Zumindest, wenn man nicht verstand, dass es sich eigentlich nicht um eine Manipulation, sondern nur um eine Erneuerung handelte.
Tatsächlich konnte man allerdings auch Veränderungen vornehmen. Man konnte Erbkrankheiten erstmals in der Geschichte heilen. Der Medizin waren keine Grenzen gesetzt.
Allerdings hatte er in letzter Zeit mehrfach Autos gesehen, von denen er glaubte, dass sie ihn verfolgten. Er hatte Angst, dass man ihm etwas antun könne. Darum hatte er einige Kopien seiner Daten sicher verborgen und dafür gesorgt, dass in diesem Falle an einige große Wissenschaftler Speicherkristalle mit eben diesen Daten geschickt würden.
Seine Erfindung würde überleben, selbst wenn er stürbe oder ermordet würde. Und sie würde, auch das war sichergestellt, der ganzen Menschheit zur Verfügung stehen. Zu viele Kopien der Unterlagen würden auf die Reise gehen, als dass selbst gut organisierte Gruppen alles abfangen könnten.
Pete fürchtete sich vor diesen Überlegungen. Er hatte große Angst, den Tod zu finden, weil jemand sich vielleicht mit allen Mitteln seine Forschung zu eigen machen wollte.
Aber wenn dem so sein sollte, es würde ihm wenigstens nichts nützen.
Diese finsteren Gedanken trieben ihn um, als die Inka, die Kurzform für „Individualkabine“, die führerlosen automatischen Fahrzeuge der Moderne, in die Tiefgarage von INTERGENE einbog. Wobei Tiefgarage eigentlich irreführend war. Tatsächlich bildeten die beiden Parkdecks, obschon unterirdisch angelegt, die obersten Etagen des Komplexes. Der gesamte Firmenbau lag darunter.
Bis zu vierzig Meter tief erstreckten sich die Labors des Unternehmens auf einer Grundfläche von fast eintausend Quadratmetern.
Die Garage begann rund drei Meter unter dem ausgedehnten Park, den INTERGENE als Einziges von seinem Firmengelände überirdisch zeigte. Sie war der Gebäudeteil, der die wenigste Sicherheit benötigte. Darunter schlossen sich die Büros an. Diese waren gegen jede Art von Diebstahl physisch wie elektronisch mit den neuesten Technologien gesichert.
Die Firewall von INTERGENE wurde von einer künstlichen Intelligenz gebildet, die aktiv auf jede Art von Hacking reagierte.
Viermal hatten Angreifer von außen versucht, sich in das System einzuarbeiten. Alle vier waren nicht nur gescheitert, trotz aller Verschleierung hatte die aktive Firewall sie aufgespürt. Einer hatte nicht weniger als vierzig Server zwischen sich und INTERGENE gesetzt. Doch es hatte nur rund zehn Minuten gedauert, dann hatte das System ihn lokalisiert. Er hatte Besuch von der Polizei bekommen, noch ehe er überhaupt richtig mit seinem Angriff begonnen hatte. Außerdem hatte die aktive Verteidigung Daten von seinem Computer geborgen, die bewiesen, dass er für ein Konkurrenzunternehmen arbeitete.
Beide hatten sich außergerichtlich auf eine Schadenersatzzahlung in Milliardenhöhe geeinigt.
Die physische Sicherheit war sogar fast noch höher. Jeder Zugang war mit Wärmebildscannern, Retinasensoren, Chipkarten und Zugangscodes gesichert. Und Pete war fast sicher, dass es noch andere Sicherheitsfeatures gab, die ihm nicht bekannt waren.
Die Wände bestanden aus ein Meter dickem Stahlbeton. Hatte man diese Sicherheitsschleuse hinter sich gebracht, so konnte man sich im Prinzip frei bewegen. Allerdings dauerte die Reise zu den Labors doch noch einige Zeit.
Es gab hier hochkomplexe genetische Experimente und die Freisetzung mancher Zellkultur, Viren, Bakterien und dergleichen konnte unabsehbare Folgen haben. Darum gab es eine Klassifizierung in fünf Stufen. Stufe eins war die Forschung an Saatgut und dergleichen. Stoffe, die ohnehin bald im Feldversuch getestet werden sollten.
Im dritten Laborgeschoss, also unmittelbar unter den beiden Geschossen der Sicherheitsstufe eins, begann Stufe zwei. Auch diese bestand aus zwei Ebenen. Es folgte Sicherheitsstufe drei, darunter vier und zu unterst fünf.
Stufe fünf war dabei der Forschung an hochinfektiösen und pandemiegefährlichen Keimen vorbehalten. Hier suchte man nach Heilmitteln für die größten Gefahren der Menschheit. Pete konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass auch Forschungen für biologische Waffen dort unten durchgeführt wurden. Aber er konnte es nicht beweisen und auch nicht ändern.
Sein eigenes Labor lag in Sicherheitsebene vier. Niemand konnte die Gefahr wirklich einschätzen. Nicht einmal Pete selbst. Darum hatte er dem hohen Sicherheitsstandard zugestimmt. So musste er nicht weniger als vier Sicherheitsschleusen durchqueren. Jeder Sektor war vom anderen hermetisch abgeschlossen.
So dauerte es manchmal bis zu einer halben Stunde vom Parkdeck bis zu seinem Labor. Aber das musste er eben in Kauf nehmen.
Doch heute brauchte er das nicht. Heute hatte er einen Termin mit Jack Watson.
Nervös fingerte er nach der Zigarette hinter seinem Ohr und drehte sie in den Fingern. Für einen Moment war er versucht, die Zigarette anzustecken. Doch erstens hatte er kein Feuer und zweitens herrschte hier absolutes Rauchverbot – wie ohnehin in jedem öffentlichen Gebäude überall in den USA, Europa und auch den meisten anderen Ländern der Welt.
Er hatte keine Augen für die Umgebung. Manchmal, wenn er entspannt und guter Laune war, faszinierte ihn auch nach so langer Zeit noch die Anlage dieses Gebäudes. Bis hin zu Ebene fünf – die er allerdings nur ein einziges Mal betreten hatte – war jeder Gang und jedes Büro begrünt. Man hatte das Gefühl, bei bestem Wetter durch eine Parklandschaft zu laufen. Holographische Tapeten stellten eine schier endlose Weite dar und die helle aber indirekte Beleuchtung war in Intensität und Zusammensetzung dem Sonnenlicht an einem sonnigen Tag nachempfunden. Lediglich ein großer Teil des UV-Bereichs wurde weggelassen.
Das Licht war so gut, dass hier unten Pflanzen jeder Art wuchsen. Der Boden bestand in der Tat nicht aus Stein, Holz oder Teppich, sondern aus Gras. Lebendem Gras. Es gab richtige Gebüsche, Blumenkästen und dergleichen mehr. Ein normaler Gang bei INTERGENE glich einem liebevoll bepflanzten Balkon mit Grasboden an einem schönen Sommertag. Auch jedes Büro war in dieser Art eingerichtet. Niemand, der hier entlangging, würde auf die Idee kommen, dass man sich metertief unter der Erde befand.
Nur die Labors enthielten keine Begrünung. Hier herrschten Reinraumbedingungen und Pflanzen waren dabei nicht unbedingt zuträglich.
Doch trotz aller Wunder um ihn herum, heute hatte er dafür keinen Blick. Seine Gedanken waren bei dem Termin, den er in wenigen Minuten hatte.
Im Geiste ging er seine Strategie, seine Aussagen, noch einmal durch und stellte fest, dass seine Gedanken jedes Mal in eine andere Richtung gingen. Es war so ein komplexes Projekt, es gab so viel zu erzählen, zu sagen, zu analysieren. Und er hatte nur wenige Minuten Zeit. Jack Watson war ein vielbeschäftigter Mann. Er würde sich sicher keine Stunden für ihn nehmen.