Der Schlüssel für fast alle Probleme: Zivilcourage

Lange habe ich mit mir gerungen, ob ich beginnen soll, zu bloggen oder auf meinem eigenen Account Artikel zu schreiben. Schließlich schreibe ich ja auch als freier Journalist für Zeitungen. Aber hier darf ich keine Meinungen, keine Einschätzungen, keine Kommentierung abgeben. Darum habe ich nun entschieden: Ja, ich möchte diesen Weg gehen, quasi als Chefredakteur meiner eigenen Seite genau dieses Recht zu haben.

Was folgte war die nächste Überlegung: Was wäre denn ein gutes Thema für meinen ersten Artikel. Ein lokales, wie die mutlose Reaktion der Krefelder Politik auf die Vorschläge von Fridays For Future (FFF)? Oder doch Klima auf höheren Ebenen wie Bund oder Europa? Will ich über die Vorgänge rund um die Fußball Bundesliga schreiben, in der ein äußerst ehrenwerter Mensch, der genau die Art von „Superreichem“ ist, die wir haben wollen, der sich einbringt, Geld für soziale Projekte ausgibt, brav Steuern zahlt und stets auf dem Boden geblieben ist, eben Dietmar Hopp, übel angegangen wird? Oder, vor zwei, drei Wochen, die rassistischen Auswüchse in Gelsenkirchen (zumindest angeblich, allerdings wohl nicht final bewiesen) und Münster, das allerdings zugleich ein tolles Zeichen ist – aber dazu später mehr. Will ich generell über Rassismus und die Rechts-Links-Problematik reden?

Lange habe ich darüber nachgedacht, bis ich zu dem Ergebnis kam: Was mich vor allem stört ist ein ganz grundsätzliches, alle diese Fälle verbindendes Problem.

Der Blick über den eigenen Tellerrand

Ich rede von mangelnder Zivilcourage. Denn alle diese Dinge haben gemein, dass sie im Grundsatz zumindest argumentativ auf mangelndes Denken ans Allgemeinwohl, auf fehlende Bereitschaft zur Initiative und ultimativ auf puren Egoismus hinauslaufen. Mein höchst geschätzter, leider viel zu früh verstorbener Freund Michael Szameit sagte einmal: „Wir haben uns einen Freiheitsbegriff angewöhnt, der zutiefst amerikanisch ist, der uns nur auf uns selbst zurück wirft. Wir reden nur über die Freiheit wovon, nie über die Freiheit wozu.“ Michael war ein Mensch, der sicherlich kein Fan der USA war und, da er aus der DDR kam, wird nun mancher vielleicht den Reflex haben, er sei Kommunist. Dabei war er ein Mann der ersten Stunde bei den Montagsdemos und stand mit einigen hundert Menschen da, als, kurz nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in China, Gerüchte aufkamen, dass Panzer aufgefahren seien. Aber das nur am Rande. Auf der Analyseebene jedenfalls denke ich, dass er absolut richtig lag. Wir sind zu einer mutlosen Gesellschaft geworden, in der Jeder nur noch bestrebt ist, für sich das Beste heraus zu ziehen. Steuern zahlen ist böse – dabei werden damit Schulen, Krankenhäuser und Straßen gebaut. Einzuschreiten, wenn Menschen bedroht oder ausgegrenzt werden? Nein, man geht lieber weiter. Sich zurücknehmen, um etwas für die Umwelt und damit das Allgemeinwohl zu tun, weniger Treibhausgase, weniger Kunststoff, weniger Konsum? Nein, meine Freiheit. Wir wollen doch nicht zurück in die Höhlen. Dass es durchaus Wege gibt, beides zu vereinen, soll jetzt hier nicht Thema sein. Das werde ich sicher demnächst mal aufgreifen. Nein, der Punkt ist: In dem Moment, da ich mich hinstelle und etwas für die Gesellschaft tue, in dem ich mich exponiere und Mut zeige, verändere ich nicht nur ein kleines Stück die Welt. Ich bin auch ein Beispiel für Andere. Ich kann begeistern und mitziehen. Wenn wir automatisch davon ausgehen, dass wir geben und nichts zurückkommt, was sagt das denn über unsere Gesellschaft und unser Bild von ihr aus?

Random act of kindness

Es gibt in der Psychologie den Ansatz des random act of kindness, also einfach ohne besonderen Grund und ohne eigenen Vorteil einem anderen Menschen zu helfen. Mal kurz anzuhalten und zu helfen, wenn jemand gerade etwas Schweres oder Sperriges ins Haus trägt und Probleme hat. Oder einem alten Menschen über die Straße helfen, einem Menschen helfen, dem etwas herunter gefallen ist, jemand kurz aus einer Parklücke winken – oder nur zu einer anderen Person zu gehen und ihr zu sagen, dass sie (also geschlechtsneutral) nett aussieht. Nicht als Anmache, nicht verbunden mit „kann ich Deine Nummer haben“, sondern nur als Kompliment an eine(n) Fremde(n). Ich habe mir angewöhnt, genau das zu tun. Und es ist etwas, das zwei Dinge bewirkt: Einerseits ist es für einen selbst eine große Befriedigung, zu sehen, was man in den anderen Menschen auslöst und zweitens zeigen Untersuchungen: Menschen, denen so etwas geschehen ist, neigen dazu, es weiter zu geben. Das funktioniert aber eben nicht nur auf der kleinen Skala, sondern auch im großen Kontext.

Fußball, Politik, Rassismus: Zivilcourage als Schlüssel

Und damit sind wir beim Punkt: Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen. Wenn eine Gruppe Fußballfans – und ich glaube den Verantwortlichen, dass es ein ziemlich geringer Prozentsatz ist – abstoßende Plakate gegen Dietmar Hopp hochhalten, dann ist das nur möglich, weil die 95 Prozent der anderen nichts dagegen unternehmen. Wenn die Zivilcourage zeigen und den Deppen den Puls fühlen würden, was sollten die tun?! Warum gibt es diesen Selbstreinigungsprozess nicht? Und ja, JEDER EINZELNE ist in der Verantwortung. Jedes Mal, wenn man ein Unrecht beobachtet steht man vor einer einfachen Wahl: dafür oder dagegen. Es gibt kein neutral. Wenn ich nicht einschreite, nichts sage, nicht artikuliere, dass ich es nicht will, diese Deppen nicht ausgrenze, dann bin ich Mittäter durch unterlassen. Angeblich waren die meisten Deutschen im Dritten Reich gute Menschen. Das hat aber den Menschen im KZ nicht geholfen. Denn sie haben nichts getan. Es funktioniert wirklich auf jeder Skala. Wegschauen ist ein Teil der Tat. Nun will ich nicht die Ultra-Idioten mit den Nazis vergleichen. Aber – tertium comparationis – die Leute, die es akzeptieren, die nichts tun, sind genauso mitschuldig an der Tat. Unabhängig von der Schwere derselben. Jemanden, der andere Menschen herabwürdigt oder angreift, anzuzeigen oder zu hindern ist kein Denunziantentum. Es nicht zu tun ist Unterstützung!

Natürlich verlange ich jetzt nicht vom 15 Jahre alten Mädel, nen 120-Kilo-Hool anzugehen. Aber sie kann zum Beispiel versuchen, sein Gesicht zu fotografieren, wenn er die Maske auf oder absetzt. Sie kann ihn beim raus gehen im Auge behalten und ’nen Ordner oder die Polizei rufen. Oder sie kann einfach mit anderen mit Gesängen und Pfiffen zum Ausdruck bringen, dass sie es ablehnt. In sofern halte ich auch Kollektivstrafen für gerechtfertigt. Denn offenkundig hat die Kurve sich nicht gewehrt. Sie waren mehr, sie waren stärker. Sie hätten es gekonnt. Sie SIND Mittäter.

Was hat das mit der Politik zu tun? Nun, ganz einfach: Auch hier fehlt der Mut. Nur auf einer anderen Skala. Wenn in Krefeld FFF den Vorschlag einbringt, Straßen zu sperren, dann ist das aus vielen Gründen durchaus diskussionswürdig. International haben viele Städte autofreie Innenstädte. Und den Städten hat es nicht geschadet. Im Gegenteil. Der Wohnwert stieg in jedem einzelnen Fall und die Menschen sind glücklich darüber. Aber selbst wenn nicht: Mit solchen Maßnahmen spart man Millionen Tonnen CO2 ein. Und selbst wenn man dafür das Risiko eingeht, dass am Ende ein Verlust zurück bleibt: Zivilcourage bedeutet, sich zu exponieren, ein Risiko für andere einzugehen und zwar auch im Vertrauen, dass andere dann das gleiche für mich tun. Und wenn andere Städte das gleiche tun, dann sieht die Rechnung plötzlich ganz anders aus. Dann haben wir einen Namhaften Betrag der CO2-Emissionen eingespart. Zumal, wenn wir parallel noch ÖPNV, Radverkehr etc. fördern. Dass überdies der Wohnwert steigt und auch der Einkaufswert erhöht wird, ist hier jetzt nicht Thema, sei aber zumindest erwähnt.

Erst wenn die Chinesen anfangen….

Noch klarer wird es, wenn wir auf den Klimaschutz in der Welt schauen. Immer wieder hört man „wir stoßen ja nur 2 Prozent der Treibhausgase aus“. Mal davon ab, dass man darüber durchaus diskutieren kann, denn wir sind mittelbar für viele Treibhausgase in China oder Afrika verantwortlich, wo Dinge produziert werden, die wir konsumieren, ist das zu kurz gedacht. Außerdem ist der Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland etwa doppelt so hoch, wie in China. Aber lassen wir das einmal raus. Zivilcourage hier gegenüber der Weltgemeinschaft bedeutet: Ich tue etwas Selbstloses in der Hoffnung, mit meinem kleinen Beitrag Andere anzustiften, Ähnliches oder Gleiches zu tun. Kann das schief gehen? Natürlich! Wenn ich der Frau helfe, die gerade belästigt wird, und mir dafür vielleicht sogar eine einfange, dann kann es sein, dass in gleicher Situation, wenn ich Hilfe brauche, 100 Menschen vorbei gehen. Dieses Risiko wird immer da sein. Aber je häufiger ich selbst geholfen habe, je mehr Menschen ich erreicht habe, desto großer ist der Effekt. Random act of kindness-Prinzip eben. Wenn wir also zeigen, dass es geht, dass wir als Gesellschaft bereit sind, etwas zu tun, dann übt das auch auf USA oder China ein Stück weit moralischen Druck aus.

Positivbeispiele gibt es

Wir wissen auch, dass das funktioniert. In Münster wurde unlängst der ghanaisch-stämmige Deutsche Leroy Kwadwo rassistisch beleidigt. Daraufhin stand ein ganzes Stadion auf, der Täter wurde an Ordner übergeben und unter dem Applaus der Menschen aus dem Stadion gebracht. Übrigens: Kwadwo ist Deutscher. Er ist hier geboren, spricht absolut akzentfrei Deutsch, er ist kein bisschen weniger Deutscher als ich. Denn, Fun Fact, „Deutsches Blut“ gibt es nicht. Aber auch dazu vielleicht demnächst mal mehr. Dieser Fall zeigt: Wir können es! Wenn die Kurven bei den Spinnern mit Transparenten gegen Hopp, mit Bengalos und was weiß ich genau SO reagieren würde, das Problem wäre binnen einer Woche vom Tisch. Und ja, das geht. Wir haben auf diese Art Ende der 90er so im Eisstadion reagiert. Als ständig Gegenstände auf das Eis geworfen wurden und die Pinguine Strafen über Strafen zahlten, da haben wir mit ein paar Leuten die Initiative übernommen und Werfer zum Ordner geschleift. Wir waren eine Hand voll Leute. Und ich selbst war 19 oder 20 und nie besonders groß und kräftig. Trotzdem hat es funktioniert. Das Problem wurde binnen weniger Monate DEUTLICH weniger. Auch wenn es Jahre später, da war ich gar nicht mehr in der Kurve, sondern auf der Pressetribüne, wieder aufflammte. Was ich sagen will: Wir können etwas bewegen. Wir können die Welt verändern. Vom Kleinen zum Großen. Fangen wir bei uns selbst an und dann beim Freund, bei den Eltern, bei Kindern, Nachbarn oder was weiß ich. Sorgen wir dafür, dass Anstand wieder ein Wert wird. Und engagieren wir uns. „Was soll ich denn allein machen“ ist zu kurz gedacht. Fang an! Wenn andere folgen, dann macht es irgendwann die ganze Gesellschaft. Du BIST die Gesellschaft.

Es mag auch mal „weh tun“

Das kann dazu führen, dass es auch mal schmerzhaft wird. Dass man angefeindet wird. Man muss nur ins Netz gucken, wie mit Greta Thunberg umgegangen wird. Sie HAT genau das getan. Sie ist aufgestanden für etwas, an das sie glaubt. Egal, ob man ihr inhaltlich zustimmt, oder nicht: Das gebietet Respekt. Aber die Reaktionen sind nicht davon getrieben. Da gibt es Zuspruch, aber auch viel Hass. Auch Kabarettisten und besonders Kabarettistinnen bekommen viel davon ab, wenn sie die Gesellschaft kritisieren. Und als wir damals die Leute aus der Kurve gefischt haben, da gab es noch keine sozialen Netzwerke. Es fing gerade erst an, dass es überhaupt das Internet so richtig gab. Ein Fan-Forum entstand etwa um diese Zeit und ich bin noch analog mit 56kBit ins Netz gegangen. Aber das ändert am grundsätzlichen Sachverhalt wenig. Klar gibt es auch ganz schlimme Beispiele. Die seien nicht verschwiegen. Der Fall Dominik Brunner, der seine Zivilcourage in einer U-Bahn in München mit dem Leben bezahlte, ging durch die Welt. Aber zur Wahrheit gehört auch: Hätten MEHR Menschen sich mit ihm verbündet, wären auch ihm Menschen zur Hilfe gekommen, es wäre dazu nicht gekommen.

Schaut hin, engagiert Euch!

Wie gesagt: Es gilt auf allen Ebenen. Schaut nicht weg. Weder im Stadion, noch auf der Straße. Als Politiker, egal, ob in der Bezirksvertretung oder im Bundesministeramt: Schaut nicht nur auf die nächste Wahl. Denkt größer, denkt auch mal holistisch. Habt unsere ganze Gesellschaft im Blick. Und auch wir Journalisten müssen uns bescheiden und mal die Sensationsschlagzeile liegen lassen, um lieber etwas differenzierter zu sein. Denn ein differenzierter Text unter der reißerischen Zeile hilft nix. 95 Prozent der Leser hören nach der Zeile auf zu lesen. Darum finde ich diese auch das mit ABSTAND schwerste am ganzen Artikel. Ich fürchte, wenn wir so weiter machen, wenn wir nicht langsam anfangen, uns als Menschheit zu verstehen und entsprechend zu handeln, wenn wir uns nicht als Teil der Welt und des Ökosystems wahrnehmen und Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen, dann wird das Ganze kein Gutes Ende nehmen. Und nein, ich rede hier nicht einmal von Klimakrise oder so etwas. Es ist wirklich auf allen Ebenen nicht eben Mut machend, was ich beobachte.

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