Von Nazisprech, „Menschenmüll“ und einem verlorenen Platz

Kurzversion

Mir wurde immer wieder die Rückmeldung gegeben, dass meine Texte gut seien, aber zu lang, so dass viele Menschen sie gar nicht lesen würden. Ich finde die Differenzierung und Erläuterung der Punkte aber wichtig und die braucht nun einmal Platz. Darum werde ich jetzt einen Kompromiss machen und zusätzlich eine Kurzversion vorwegstellen. Die lange kommt dann hinten dran. Wer sie lesen möchte: Gern. Wer nicht, der liest nur die kurze. Ich hoffe, das passt dann für alle.

Also: Vor einigen Tagen wurde in Krefeld eine Äußerung eines Opermagazins stark diskutiert und kritisiert, in der die Drogensüchtigen, die sich auf dem Theaterplatz aufhielten (aktuell ist das durch den Drogenkonsumraum deutlich zurückgegangen) als „Menschenmüll“ bezeichnet wurden. Das sorgte für einen heftigen Aufschrei – in meinen Augen zurecht. Aber es gibt auch Kommentare, die besagen: Klar ist die Formulierung für den Hintern, aber man darf darüber nicht vergessen, dass ein reales Problem angesprochen wurde. Und das stimmt. Aber es ist ein Problem, das wir nicht so einfach lösen können. Wir können natürlich die Junkies vom Theaterplatz vertreiben. Aktuell sind sie tagsüber beim Drogenkonsumraum. Aber wir werden sie nicht weg bekommen. Sie werden bleiben. Irgendwo. Und sie werden eine Belastung für die Gesellschaft sein. Ob im Drogenhilfezentrum, auf nem anderen Platz, in nem Park oder wo auch immer. So wie in jeder großen Stadt. Egal, was wir tun, wir müssen an die GRÜNDE heran. Und dafür gibt es diverse Ansätze. Aber die alle haben zueigen, dass sie recht disruptiv sind. Menschen von Drogen weg zu bekommen ist schwer bis unmöglich. Man muss also verhindern, dass sie dahin kommen. Dafür brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag, der mehr Perspektiven vermittelt, damit nicht ein Teil der Gesellschaft sich als chancenlos empfindet und nur den Ausweg sieht, in Drogen zu flüchten. Außerdem braucht es eine veränderte Drogenpolitik. Prohibition hat in der gesamten Menschheitsgeschichte noch nie wirklich funktioniert. Weder bei Alkohol in den USA oder aktuell in Ländern wie Iran oder so, noch von anderen Rauschmitteln. Egal, wie drakonisch die Strafen sind. Das heißt nicht, dass wir Heroin bewerben sollten wie heute Alkohol. Aber wir sollten ALLE Drogen so weit legal machen, dass wir sie kontrollieren können – gleichzeitig aber auch so reglementieren, dass wir den Anreiz senken. Das gilt übrigens AUCH für Alkohol. Außerdem braucht es eine Umverteilung, die Menschen eine Perspektive gibt, auch wenn sie nicht zu den Gewinnern der Gesellschaft zählen. Und nein, das ist kein Bürgergeld mit entwürdigendem Striptease der gesamten sozioökomischen Situation. DAS ist die Entscheidung, die wir meiner Ansicht nach treffen müssen. Es geht darum, dass wir wählen müssen: Weiter so, weiter eine Leistungsgesellschaft sein, in der alle, die nicht 100% mitspielten bedroht sind, auch in Drogen abzustürzen, in der wir uns nen schlanken Fuß machen, indem wir auf diese Menschen als „Versager“ oder eben „Menschenmüll“ herunterschauen (und machen wir uns nichts vor: Die allermeisten Menschen empfinden das so, auch wenn sie es nicht aussprechen). Oder eben einen massiven gesellschaftlichen Wandel. Der würde aber zumindest den oberen zehn Prozent der Menschen hinsichtlich Einkommen durchaus weh tun. Anders wäre es nicht zu stemmen. Die Frage ist: Sind wir dazu bereit? Und wäre das überhaupt ein negativer Punkt? DAS müssen wir diskutieren. Wir müssen gesellschaftliche Entwürfe diskutieren, die Drogenabhängigkeit zu einer marginalen Randerscheinung machen oder gänzlich verhindern (inklusive Alkoholismus!). Auf allen Ebenen. Oder wir müssen den Status Quo aushalten und in jeder größeren Stadt mindestens einen öffentlichen Platz oder Park abschreiben. Alles andere sind Scheindiskussionen und wohlmeinende Schattengefechte. Das zumindest ist meine Meinung!

Langversion:

Aktuell, speziell vor einigen Tagen (ich bin im Schreiben etwas aufgehalten worden) treibt Krefeld eine Debatte, die zugleich von extremer Relevanz für die Stadt und den gesamten gesellschaftlichen Diskurs ist, wie eigentlich unfassbar belanglos. Was ist passiert? Nun, wir haben hier einen Platz in recht zentraler Lage, den Theaterplatz. Dieser liegt unmittelbar am Ostwall, DEM Zentrum Krefelds. Die andere Seite grenzt an die Königstraße – in der Verlängerung die Haupteinkaufsstraße. Er beheimatet das Theater, die Stadtbücherei (Mediothek) und die noch immer wichtigste Veranstaltungshalle für Veranstaltungen im Bereich um die 1000 Besucher, das Seidenweberhaus. Nun ist das Problem: Dieser in seiner Anlagen wohl wichtigste und repräsentativste Platz der Stadt ist seit rund der Jahrtausendwende fest in der Hand von Junkies. Hier wird gedealt, es wird konsumiert – von Joint bis Spritze, von psychedelisch bis Opiat: Hier findet sich alles. Entsprechend findet man Spritzen, alle denkbaren Arten von Körperausscheidungen nebst entsprechenden Gerüchen und natürlich: einfach Elend, Armut und natürlich auch Kriminalität. Und trotz der angeblich harten Hand der CDU-Zeit, trotz „Helfen und Handeln“ der aktuellen SPD-Regierung (auch schon seit über sieben Jahren im Amt, zumindest in Persona OB Frank Meyer): Keiner Stadtführung fiel etwas dagegen ein. Nun hat eine Opernzeitschrift einen Antipreis vergeben und der ging, aufgrund dieser Zustände rund um das Theater, nach Krefeld. So weit so normal. Das Problem ist: Die Jury bediente sich in ihrer Begründung des Wortes „Menchenmüll“, was einen Sturm der Entrüstung auslöste. Stadt, Politik, verschiedene Verbände: Alle sind dabei und kritisieren diese sprachliche Entgleisung, während die Juryverantwortlichen jede Kritik weit von sich weisen, sich missverstanden und aus dem Zusammenhang gerissen fühlen und die Kritik sogar – nebst Wortwahl – bekräftigen.

Reaktionen sind unterschiedlich

Nun gibt es also drei Zielrichtungen: Zunächst die erwähnte der Empörung. Viele Menschen aller Couleur und Bildungsstandes sagen klar: Wer solche Begriffe nutzt, der disqualifiziert sich für jede Diskussion. Das ist Nazisprech und am Ende ein Verstoß gegen Artikel 1 Grundgesetz – denn mit Menschenwürde hat so etwas nun nichts zu tun. Natürlich gibt es auch die andere Gruppe. Die, die sich ständig beschweren, nichts mehr sagen zu dürfen, die selbsternannten „aufrechten Kämpfer für Werte“, kurz: Die neuen Rechten, die feiern den Spruch als „aufrechte Nennung der Dinge beim Namen“ und ähnlichen menschenverachtenden Unsinn. Nun und dann gibt es noch diejenigen, die sagen: Klar, das Wort ist eine Katastrophe, die Kritik ist aber berechtigt und über die müssen wir reden – auch wenn die Stadt nun gerade aktuell einige Dinge in dieser Hinsicht angeht. So ehrlich muss man dann schon sein, aber darum geht es gar nicht. Weder in der Diskussion, noch in meinem Text. Nun, es gibt natürlich noch ein paar andere Kommentare. So zum Beispiel sprachhistorische. So wird der Begriff relativiert, weil es ihn nachweislich schon vor der Nazizeit gegeben habe. Das lässt sich allerdings sehr schnell abhandeln: Erstens: Es gab viele zentrale Worte der Nazizeit schon lange vorher. Die Nazis haben sie aber umgedeutet und ihnen neue Sinnkontexte verpasst, die oft bis heute gelten. Und vor allem: Egal, wann das Wort erstmals genutzt wurde – und wenn es in den Höhlen der Eiszeit gewesen wäre: Der SINN, das Gedankengut, ist eins, das der Nazizeit eben zugehörig oder zuortenbar ist. Es ist eine Unterscheidung zwischen „wertem“ und „unwertem“ Leben. Denn Müll ist nichts wert. „Müll“ zu treten, anzuzünden, zu „beseitigen“ ist nichts Kritikwürdiges. Rein sprachlich werten die Jurymitglieder die Menschen also fraglos ab. Der Kontext, in dem vergleichsweise kryptisch und möchtegernintellektuell der Stadt ein schwarzer Peter zugeschoben werden soll, ändert daran wenig.

Also: Die Leute, die der Wortwahl zustimmen können wir an dieser Stelle getrost links liegen lassen. Diese Aussagen und ihre Sichtweisen sind – zumindest aus meiner Sicht – so weit weg von vernünftig, dass wir darauf nicht eingehen müssen. Die Ablenkungsmanöver über angeblich andere Grundlagen des Begriffs laufen ob der transportierten Geisteshaltung komplett ins Leere und die Kritiker an der Aussage haben schlicht und ergreifend Recht. Also: Case closed? Nope, object, your honor! Natürlich ist die Aussage kritikwürdig und natürlich ist das Problem dadurch weder weg noch gelöst. Trotzdem sind meines Erachtens nach auch die eher ausgewogenen Kritiken nicht zutreffend. Oder sagen wir: zumindest zu kurz gegriffen. Denn sie zielen auf die Stadt als Verursacher der Situation ab und fordern Veränderungen von den Stadtoberen. Nun muss man dazu unterschiedliche Dinge sagen: Erstens: Es wird aktuell versucht, Dinge zu machen. Ob das erfolgreich ist oder nicht spielt dabei erstmal keine Rolle. Der Punkt ist: In Drogenhilfezentrum und dergleichen wird etwas getan. Noch viel wichtiger ist aber in meinen Augen folgendes: Am Ende spielt es nur bedingt eine Rolle, denn die Kritik greift viel, viel zu kurz. Nicht missverstehen: Der Platz ist eine Zumutung. Für alle Menschen. Für Bürger, die nur Mediothek, Seidenweberhaus oder Theater benutzen oder den Platz einfach nur überqueren wollen, für die Angestellten der Institutionen, für die Stadt an sich und für die dort exitierenden Menschen selbst. Und natürlich könnte die Stadt etwas dagegen tun. Man könnte den Platz täglich räumen, Platzverweise aussprechen, bauliche Dinge ändern, Zelte entfernen, Täglich mehrfach reinigen, Drogenverfolgung ausweiten und so weiter. Und binnen kürzester Zeit würde der Platz anders aussehen. Nur: Die Menschen wären nicht weg. Die Argumentation stimmt, dass sie dann eben woanders wären. Auf dem Josef Beuys-Platz vor dem Museum, im Stadtgarten, dem größten und schönsten innerstädtischen (oder zumindest am Rand der Innenstadt gelegenen) Park, auf dem Neumarkt mitten in der Fußgängerzone rund um Cafés, Geschäfte und Eisdielen oder sonstwo. Der Punkt ist: Die Menschen sind ein gesellschaftliches Problem. Eins das bleibt. Übrigens. Entgegen der Aussagen in der Jurybegründung sind die meisten der Menschen auf dem Theaterplatz meines Wissens nach nicht obdachlos. Aber das ist egal. Der Punkt ist: Die Stadt konnte das Problem zu keinem Zeitpunkt final lösen und kann es auch in der Zukunft nicht. Sie könnte den Theaterplatz frei bekommen, aber eben nicht die Stadt.

Es ist ein gesellschaftliches Problem

Denn wenn wir mal etwas größer schauen, dann ist es kein spezifisches Krefelder Problem. Man nenne mir eine Großstadt in Deutschland, die einen solchen Platz nicht hat. Nein, in den meisten Städten ist das weniger prominent als in Krefeld, aber es ist mal ein kleiner Platz, mal ein Park, der Bahnhof oder was auch immer. Der Punkt ist: In jeder deutschen Stadt gibt es Armut, Elend, Drogen und Leid. Und in jeder Stadt gibt es Orte – offene, ungeregelte und damit öffentliche Orte – an denen die Benachteiligten der Gesellschaft zusammen kommen. Denn eins ist klar: Wer aus der Gesellschaft ausgeschlossen ist, der sucht sich nicht unbedingt die Menschen als Umgang, die ihn verachten, ausgrenzen und verspotten. Man umgibt sich sozial gern mit „seinesgleichen“. Niemand will „der Asi in einer Gruppe sein“, sondern man bildet eigene Gruppierungen und die bilden dann eigene Sichtweisen, in denen man selbst „gut“ ist. Das ist die menschliche Natur. Und das wiederum heißt: Es bilden sich Subkulturen. Je mehr Armut, je mehr Menschen es gibt, die durch’s Raster fallen, desto größer ist diese Gruppe zahlenmäßig. Nun kann man natürlich allerlei Dinge tun. Man kann die Menschen von einzelnen Plätzen vertreiben, man kann sie zerstreuen, man kann sie kriminalisieren und der Dinge mehr tun. Aber der Punkt ist: So lange wir nicht massive Verstöße gegen unser Grundgesetz und diverse Menschenrechte begehen und in echter Nazi-Manier daran gehen, sie zu ermorden, werden sie immer da sein. Und alle Maßnahmen auf kommunaler Ebene – so wie die oben Beschriebenen – sind bestenfalls vergleichbar mit der Gabe von Aspirin gegen Hirntumor.

Es muss an die Wurzel gehen – das geht nur mit großen Änderungen

Also sind wir an dem Punkt, an dem wir eigentlich zwei Optionen haben: a) aushalten und b) umstrukturieren. „Aushalten“ bedeutet in diesem Kontext: Wir machen weiter wie gehabt. Wir spielen mehr oder minder ausgeprägt „survival of the fittest“ und lassen unsere Gesellschaft auf dem Stand, den wir haben. Menschen müssen performen, Leistung bringen, Geld verdienen. Tun sie es nicht, dann rutschen sie finanziell und in der Folge auch sozial ab und werden Menschen zweiter Klasse. Menschen dürfen keine Schwächen haben, keine Fehler machen, keine Krankheiten, keine Süchte, gar nichts entwickeln. Entweder Du bist erfolgreich oder Du bist nicht dabei. Und die Folgen, dass zigtausende Menschen eben nicht dabei sind, die akzeptieren wir. Reichtum wird kultiviert, Armut und Leid, „durch das Raster fallen“ wird im besten Falle toleriert, meist ignoriert. Dazu zählen dann Drogensüchtige an Plätzen jeder Großstadt – oft auch an mehreren. Dazu zählt die dazugehörige Kriminalität, der Drogenhandel, die Kosten im Gesundheitssystem, die Toten. Dazu zählen Obdachlose, die in Einkaufsstraßen, an Supermärkten oder vor Kirchen betteln. Dazu zählen lange Schlangen an den Tafeln, dazu zählen Menschen, die aus dem gesellschaftlichen Leben faktisch verschwinden, weil ein Kneipenbesuch, Essen gehen, Kino, Sportveranstaltungen oder dergleichen von Bürgergeld nicht drin sind. Die sind dann halt weg, sitzen zu hause, langweilen sich zu Tode und bilden einen immer größeren, rumorenden Kern in der Gesellschaft.
„Umstrukturieren“ bedeutet, dass wir unsere Gesellschaft auf den Prüfstand stellen. Und das in vielen Bereichen. Natürlich vor allem die Reichtumsverteilung. Aber auch unsere Sozial- und Gesundheitssysteme. Unsere Drogenpolitik, unsere Bildungspolitik, im Prinzip fast alles. Das würde natürlich bedeuten, dass reiche Menschen mehr abgeben müssten, dass Privilegien wegfielen, dass eben das Kapital, das da ist, anders – besser – verteilt wäre. Es würde bedeuten, dass Obszönitäten verschwänden, während dafür gesellschaftlicher Frieden auf allen Ebenen gesteigert würde. Wie das aussehen könnte? Dafür gibt es dutzende Möglichkeiten und Konzepte. Es gibt viele kluge Menschen, die sich Gedanken dazu machen. Und natürlich auch weniger kluge. Mich überzeugt am meisten eine Kombination aus deutlicher Umstellung unseres Steuersystems, so dass sieben-, acht-, und mehrstellige Einkommen sehr viel stärker besteuert werden, wobei wir Schwellensysteme haben. Also 15.000 sind frei, von den nächsten 5.000 gehen – einfach mal als Größenordnung – 10% weg. Von den folgenden 5.000 20%, dann 30 und so weiter. Aber halt mit dann zunehmenden Schritten. Sagen wir, beim heutigen Spitzensteuereinkommen gehen dann 50% der Kohle über 40.000 weg. Aber da die unteren Grenzen weniger versteuert würden, bliebe sogar mehr Netto. Und: Für alles über z.B. 45.000 gehen 55% weg. Bei allem über 100.000 sind wir bei 60 und so weiter. Und dann könnte man irgendwann ankommen bei: Alles über ner Million kostet 75%, alles über 5 Mio 80 und alles über 10 Mio 90 Prozent. Hört sich total krass an, aber am Ende bliebe ja immer noch verdammt viel Geld übrig. Und plötzlich hätten wir viel Geld zur Verfügung, mit dem wir z.B. ein BGE einführen könnten. Sagen wir 1.500 Euro pro Person über 18, Kinder darunter erhalten 750. Eine Vierköpfige Familie hätte dann 4500 Euro Netto plus das, was verdient wird. Alles andere fiele weg. Kein Wohngeld, kein Kindergeld, kein nix. Das würde natürlich auch unfassbar viele Behörden und Verwaltung einsparen und schon in sich einen guten Teil refinanzieren. Damit bliebe Raum, sich auch auf andere Dinge zu konzentrieren. Selbstverwirklichung, Kindererziehung etc. Weiterhin sagen wir: Gesundheitssystem ist verpflichtend für alle. Punkt. Es ist ein solidarisches System und das heißt: Natürlich kann jemand, der 10 Mio im Jahr verdient nie so krank werden, dass sich das rechnet. Aber das ist der Solidargedanke. Niemand geht aus dem System gerade WEIL er sich Solidarität leisten könnte, also mehr als eine gewisse Summe verdient. Wir könnten dann die Sätze locker halbieren und mehr Leistungen in der gesetzlichen Kasse bieten und so weiter. In der Folge gibt es niemanden mehr, der sich keinen Zahnarztbesuch leisten kann oder zumindest nicht die Sanierung der Zähne. Niemanden, der bei der Tafel Almosen erbitten muss, niemanden, der perspektivlos auf ein Leben schaut, das nur noch im Rausch zu ertragen ist.

Sozialismus? Nö. Nur etwas Ausgleich

Natürlich werden jetzt viele Leute – auch welche, die davon massiv profitieren würden – aufschreien. Das sei Sozialismus, das sei ungerecht, weil Leistungsträger ja die Opferlämmer seien und überhaupt würden diese Leistungsträger auswandern. Dazu muss ich sagen: Ob es Sozialismus oder nur Sozial wäre, das ist eine Frage des Wordings. Von mir aus nennen wir es so, ist mir ziemlich egal. Die Sache ist aber, dass wir damit viel näher an eine Reichtungsverteilung kämen, wie sie auch im Grundgesetz der Bundesrepublik vorgesehen war, wie viele Leute sie intuitiv für richtig halten und vor allem: Wie sie den sozialen Frieden dauerhaft sichert. Dass Reiche das Zehnfache oder von mir aus das Hundertfache von Armen, sogar vom Durchschnitt haben: Jo, passt schon irgendwie. Aber dass die reichsten paar hundert Menschen mehr besitzen, als der Rest zusammen? Nein, das ist nicht in Ordnung. Das ist übrigens auch in der Volks- und Betriebswirtschaftlichen Theorie nicht in Ordnung, weil sie ihr Kapital nicht im Ansatz unter die Leute bringen können. Wie soll ich sinnvoll 10 Milliarden ausgeben? Außerdem lässt sich durchaus die Frage stellen, ob ein Investmentbanker, Staranwalt oder Fußballprofi (übrigens erübrigt sich an dieser Stelle das Gendern fast komplett!) wirklich die Leistungsträger der Gesellschaft sind und es gerechtfertigt ist, dass sie so astronomisch viel mehr Geld bekommen als Pflegekräfte, PolizistInnen, LehrerInnen oder von mir aus BriefträgerInnen. Eigentlich ist es doch eine Perversion unseres Systems, dass die Leute, die moralisch höchst fragwürdige Wetten auf zukünftige Lebensmittelpreise machen und damit für zusätzliche Verteuerung sorgen, zu den reichten unserer Welt zählen! Hier tut ein wenig Ausgleich dringend Not. Natürlich müssten noch ein paar Sonderfälle geregelt werden. Zum Beispiel der Fußballprofi, der in zehn Jahren faktisch das Geld für ein Leben verdienen und Rücklagen schaffen muss. Hier könnte man aber z.B. eine Art „Lebenssteuer“ einführen. Er versteuert die 10 Mio Einkommen mit bis zu 90%, aber mit jedem Jahr, in dem er später kein Einkommen hat, sinkt der Durchschnittsverdienst pro Jahr, damit die Steuerstufe und er bekommt Rückzahlungen. Das wäre für Viele sogar eine Sicherheit, dass sie ihr Geld nicht zu sehr verpulvern und quasi eine Zusatzrente schon vom Karriereende an haben. Will sagen: Die ganz konkrete Ausgestaltung könnte noch einige Abweichungen enthalten. Das Wichtigste in meinen Augen aber: Wenn jemand 250.000 EUR netto im Jahr hat, dann hat er oder sie keine wirklichen finanziellen Sorgen. Er/Sie lebt super, kann praktisch alles kaufen, hat ein gutes Haus etc.. Nun könnte diese Person ohne Angst auf die Straße gehen, wenn alle anderen eine Situation hätten, in der sie wirtschaftlich zumindest auf solidem Niveau abgesichert sind. Ist es da wirklich ein Gewinn, vielleicht eine Million Netto zu haben, dafür aber stets in der Angst zu leben, beraubt, entführt oder sonstwie Opfer eine Straftat zu werden oder auch nur mit ständigem Betteln konfrontiert zu sein? Ich würde lieber mit 250k in einer Welt leben, in der ich all diese Sorgen nicht hätte! Und ich bin überzeugt: Die meisten Menschen würden das recht schnell auch erkennen und eben deshalb NICHT abwandern. Übrigens: Solche Steuersätze gab es schonmal. Nicht hier, nein, aber im Land des Turbokapitalismus’, den USA! Die hatten in den 60er Jahren absurde Steuersätze nach heutigen Maßstäben für hohe Einkommen. Es war aber nicht die schlechteste Zeit dieses Landes. Ich persönlich würde wohl viel lieber in einer US-Vorstadt der 60er leben, als in einer heutigen.

Drogenpolitik: Wir brauchen den „Sweet Spot“

Kommen wir noch kurz zur Drogenpolitik. Hier gibt es Untersuchungen, die neulich in einer Folge von MaiThinkX gezeigt wurden. Da zeigte eine Kurve die gesellschaftlichen Schäden und Kosten durch Drogen. Bei einer sehr restriktiven Politik waren diese astronomisch. Denn die Menschen konsumieren trotzdem, aber es gibt Null Kontrolle über die Substanzen. Die Folge sind schwere gesundheitliche Schäden auf Kosten des Gesundheitssystems, hohe Kosten für Strafverfolgung und so weiter. Wenn die Regeln gelockert werden, dann sinkt die Kurve bis zu einem „Sweet Spot“, an dem die Drogen zwar legal sind, aber stark reglementiert werden. Es gibt keine Werbung, es gibt kein Auslegen in der „Quängelzone“ an der Kasse des Supermarkts. Es gibt viel Invest in Aufklärung und Prävention. Und es gibt vor allem eine starke Kontrolle der Drogen selbst auf Reinheit und Sicherheit. Besonders schädliche Substanzen werden auch nur besonders schwierig erhältlich. Aber eben legal. Wird es noch lockerer – also eben Werbung, Quängelzone, Verkauf rund um die Uhr an Tankstellen und was weiß ich, dann steigen die Kosten. Erleben wir bei Alkohol. Der ist tatsächlich die gesellschaftlich gesehen mit WEITEM Abstand schlimmste und gefährlichste Droge. Dann kommt lange nix, dann kommt die zweite legale Droge – Nikotin bzw. Tabak – dann kommt wieder SEHR lange nix und dann sind wir bei Heroin, Meth, Kokain und dessen Derivaten wie Crack und so weiter. Cannabis kommt irgendwann GANZ am Ende. Natürlich ist Cannabis kein Brokkoli, aber halt auch kein Meth und nein, nichtmal Alkohol. Diese Untersuchungen sollten wir ernst nehmen. Wir sollten darüber diskutieren, wie wir Drogen vernünftig reglementieren und kontrollieren. Nicht verbieten. Dass sie dadurch verschwinden und Kinder sicher wären, das ist ein vielleicht schöner Traum, aber es ist ein Traum. Wir haben das jetzt lang genug versucht – mit absurden Ausgaben – um zu wissen: Klappt nicht! Also lasst uns doch mal nen anderen Weg gehen. Einstein sagte: Die Definition von Wahnsinn ist, ständig das Gleiche zu machen und andere Ergebnisse zu erwarten. Lasst uns den Wahnsinn endlich stoppen.

Es bleibt bei „aushalten oder ändern“

Für mich wären solche Überlegungen wie die oben stehenden die einzigen, die das Potential hätten, eine Situation wie die am Theaterplatz dauerhaft und substanziell zu ändern. Ansonsten können wir nur entscheiden, es auszuhalten. Man kann die Menschen verscheuchen, dann ist es ein anderer Platz. Aber es wird solche Plätze immer geben, so lange wir nicht Schritte gehen, wie in China oder sogar im dritten Reich. Kommunale Maßnahmen können hier kaschieren, sie können Auswirkungen für Betroffene wie BürgerInnen abmildern. Aber sie können das Problem nicht lösen. Das ginge nur auf großer Skala – und mit massiven gesellschaftlichen Veränderungen wie den oben beschriebenen. Das jedenfalls ist meine Ansicht oder besser feste Überzeugung.

Ein Kommentar zu “Von Nazisprech, „Menschenmüll“ und einem verlorenen Platz

  1. Herr Schalljo, Ihre „feste Überzeugung“ teile ich :-). Hoffentlich lesen diesen Beitrag auch viele Lokalpolitiker*innen. Vermutlich werden von diesen viele auch zustimmen. Ich nenne sie gerne „Bewußtseins-Linke“ oder Bewußtseins-Soziale oder Bewußtseins-Christen*innen. Denn in der politischen Praxis verhalten sich all diese konträr zu ihren oft politischen Bekundungen. Wenn ich mir das allein in dieser Stadt anschaue. Da gibt es den von Politik und Verwaltung forcierten Verein „Krefeld für Kinder“, der bettelt für die unterschiedlichsten Aktionen zugunsten benachteiligter Kinder Krefelds., von denen es ja Tausende in Krefeld gibt. Die gleichen politisch Verantwortlichen geben Unsummen an Anwalts- und Gutachtenkosten aus, um Hedonisten*innenprojekte politisch und juristisch über diverse Klippen zu bringen. Konkret meine ich für Krefeld die Projekte „Surfpark“ und „Rheinblick“. Als in der evangelischen Kirche engagierter Mensch mit theologischer Ausbildung musste ich nach der Lektüre Ihres Beitrags an die Story „Vom reichen Jüngling“ denken. Da kommt ein gut betuchter junger Mann zu Jesus und fragt diesen, wie er das Himmelreich erlangen könne. Ohne Metaphysis könnte man ihn heute fragen lassen: Wie trage ich zu sozialer Gerechtigkeit, also „himmlischen Zuständen“ 😉 bei. Jesus antwortet ihm in der Denke und Sprache seiner Zeit mit dem berühmten Doppelgebot der Liebe (Liebe Gott und Deinen Nächsten wie Dich selbst) und dem Einhalten aller anderen Gebote. Der reiche Jüngling erklärt, dies alles schon befolgt zu haben. Was er noch tun könne. Da fordert Jesus ihn auf, sich von seinem Besitz zu verabschieden, diesen im damaligen Almosendenken (letztlich bis auf den heutigen Tag) an die Armen zu verteilen und ihm nachzufolgen. Da ist dann aber Schluss mit lustig beim Jüngling: in einer Evangeliumsfassung wird er traurig, in einer anderen unwillig und geht davon. Und dann kommt das berühmte Wort vom Kamel, das eher durchs Nadelöhr (ein kleines Tor der Jerusalemer Stadtmauer) geht als dass ein Reicher ins Reich Gottes. Auf heute bezogen erinnere ich eine Umfrage von vor vielen Jahren, in der stimmten vor einer Bundestagswahl den sozial-politischen Vorstellungen/Forderungen der Linken (ohne dass sie als deren erkennbar waren) zu, die Wahlergebnisse machten jedoch die Union zur stärksten Partei und das Ergebnis der Linken stand im umgekehrten Verhältnis zur Zustimmung zu ihren Positionen. Daher bedarf es sehr viel Überzeugungsarbeit und Durchhaltevermögen um kleinste Veränderungen zu bewirken. Ich denke da z. B. an Frau Althoffs politischen Erfolg durch qualitative Überzeugungsarbeit im jüngsten Klimaausschuss. Ich denke da an das Durchhaltevermögen des AK „Erhalt Bücherei Uerdingen“, der schrittchenweise Erfolge seines dauerhaften Engagements verzeichnen kann. Nur setzt solch ein Engagement sehr viel persönlichen Einsatz/persönliches Einarbeiten und gehörige Frustrationstoleranz voraus. Veränderung von Haltungen (die festhalten wollen) ist Dick-Brett-Bohren. Und dabei muss m. E. bei den Wähler*innen Überzeugungsarbeit geleistet werden, damit diese es von den Politiker*innen, die gewählt werden wollen, fordern. Bei politischen Entscheidungs- oder Überzeugungsprozessen bekomme ich oft eine reale Vorstellung von „Ewigkeit“ ;-). Und z. B. Kirche in der Welt ist da leider nicht besser als die Welt.
    Beste Grüße
    Norbert Sinofzik

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