Eigentlich habe ich derzeit gar keine Zeit für Blogartikel. Darum hat es in den vergangenen Wochen auch nichts gegeben. Private Dinge gehen, neben der Arbeit, vor. Aber nach den Entwicklungen der vergangenen Tage muss ich nun doch mal einiges von der Seele schreiben. Fraglos gäbe es eigentlich genug Themen, über die man sich ausschreiben könnte – doch das wohl beherrschende Thema der vergangenen Tage – zumindest in meiner persönlichen Wahrnehmung – dürfte der Stop des Astrazeneca-Impfstoffes sein. Und hier gibt es ja generell zwei Richtungen. Die einen sagen: Das ist total richtig. Da sind 7 Menschen gestorben und wenn Du einer davon wärest, hättest Du Dir gewünscht, dass es verboten wird. Die anderen sagen – ein bekanntes Meme –: Wir reden von 7 von einer Million. Also mehr als „sehr selten“ in einem Beipackzettel. Bei der Pille geht man von 1.100 von einer Million Fällen von Thrombosen aus. Also ein Fall von 1000 Verabreichungen. Das ist dann der Bereich „selten“ in einem Beipackzettel. Da wird dann erwidert, dass die Pille ja jederzeit gewechselt werden könne und es sich außerdem bei Astrazeneca um Hirnvenen gehandelt habe. So weit so richtig und doch: Schauen wir uns mal die Realitäten an.
Post hoc ergo propter hoc
Der erste und ziemlich wichtige Punkt: Meines Wissens nach gibt es bei diesen Fällen keinerlei gesicherte Studienlage. Ja, das hängt natürlich auch mit der schnellen Zulassung zusammen. Aber im Moment ist es erst einmal nicht mehr als ein Verdacht. Die Patienten wurden geimpft und hatten danach dann die besagte Thrombose. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt eine post hoc ergo propter hoc-Logik (Weil es danach geschah, geschah es deswegen). Nach dieser Logik könnte man sagen: Das trinken von Kaffee sollte verboten werden. Denn ein großer Prozentsatz der Autofahrer, die auf dem Weg zur Arbeit einen Unfall haben, hatten relativ unmittelbar zuvor, zum Frühstück, Kaffee getrunken. Der Unfall war also zeitlich nachgelagert. Kaffee scheint also Autounfälle auszulösen und gehört damit verboten. Post hoc, ergo propter hoc. Natürlich ist diese Argumentation totaler Unsinn. Kaffee kurbelt den Kreislauf an und dürfte auf diesem Wege Unfälle sogar eher verhindern. Wir bräuchten, um das richtig zu untersuchen, eine echte Studie. Eine Gruppe trinkt vor der Fahrt Kaffee. Eine trinkt Tee (der auch Koffein bzw. Teein (chemisch die gleiche Substanz)) enthält, eine trinkt Wasser oder gar nichts. Die Gruppen müssten in ihrer Zusammesetzung repräsentativ und groß genug sein und eine gewisse Zahl an Tagen analysiert werden. Dann schaut man sich an, ob es in einer Gruppe mehr oder weniger Unfälle gab und sollte das dann idealerweise noch nach anderen Einflussgrößen (Wetter, Schlafzeiten und so weiter) untersuchen. DANN haben wir eine Aussage. Das ist bei Astrazeneca noch gar nicht passiert. Wir haben im Moment nur Unfallopfer, die zuvor Kaffee getrunken haben. Für ein Verbot einer Substanz, auf der extrem viele Hoffnungen ruhen, etwas dünn.
Einordnung in die Systematik
Weiterhin habe ich mir mal einen Beipackzettel geschnappt und mir die Systematik angesehen. Dort gibt es die Kategorien sehr häufig (mehr als 1 von 10 Fällen der Einnahme), häufig (bis zu 1 von 10), gelegentlich (bis 1 von 100), selten (bis 1 von 1000) und sehr selten (bis 1 von 10.000). Wir sind also fast zwei Zehnerpotenzen unter „sehr selten“. Und das bei völlig unklarer Studienlage. Sicher, wir müssen die Impfstoffe anders betrachten, als andere Medikamente, weil die Prozesse extrem gestaucht wurden. Trotzdem ist das eine Signifikanz, die doch eher überschaubar ist.
Quervergleiche sind erschütternd
Nun mal ein Quiz: Ich habe mir das Ganze mal bei einem Medikament angesehen, das ich als Vergleich heranziehen möchte und das vermutlich fast jeder schon mindestens einmal eingenommen hat. Hier lese ich: Häufig treten Bescherden im Magen-Darm-Trakt ein. Magenschmerzen, geringfügige Blutungen und so weiter. Gelegentlich kommen Übelkeit und Erbrechen hinzu. Auch kommt es gelegentlich (also in bis zu einem von 100 Fällen) zu Magen- und Darmblutungen. Selten (wir reden, siehe oben, von bis zu einem von 1000 Fällen) kommt es zu Magen- und Darmgeschwüren, die sehr selten (knapp zwei Zehnerpotenzen über der möglichen (!) Wahrscheinlichkeit der Astrazeneca-Schäden) zu Durchbrüchen führen können. Bei Asthmatikern kommt es (selten) zu Anfällen von Atemnot, es gibt Schwellungen an Gesicht, Zunge und Kehlkopf. In Einzelfällen werden Leber- und Nierenfunktionsstörungen hervorgerufen. Die Blutzuckerwerte könnnen verringertwerden und schwere Hautausschläge können (selten) hervorgerufen werden. Selten bis sehr selten – und hier wird es im Quervergleich intressant – kommt es zu (Hirn-)blutungen, die lebensbedrohlich sein können. Wie gesagt, wir reden von Quoten irgendwo zwischen einer von 1000 und einer von 10.000 Gaben. Außerdem kommt es bei Manchen (sehr selten) zu einer verringerten Harnsäureausscheidung und damit Gicht und so weiter. Ich habe das Ganze mal gegoogelt und fand sofort einen Artikel des NDR (also jetzt nicht Bild oder so) über dieses Medikament. Ein Gastroenterologe wird dort zitiert, dass er die Zahl der Todesfälle in Deutschland pro Jahr auf 1.000 bis 5.000 schätzt. Ein solch gefährliches Medikament müsste doch im Quervergleich ebenfalls verboten oder zumindest nur unter strengster Ärtzlicher Aufsicht verabreicht werden, oder?
Erfolgreichstes Medikament der Welt
Doch Pustekuchen. Wir reden vom erfolgreichsten Medikament der Welt, das hunderte Millionen Mal pro Jahr eingenommen wird. Es ist rezeptfrei für ein paar Euro zu bekommen und die Menschen nehmen es wie TicTac: Acetylsalicylsäure oder Aspirin! Hier ist die Sorglosigkeit so groß, dass viele Menschen, die ich kenne, es sogar prophylaktisch einnehmen, wenn sie zu viel getrunken haben, um am nächsten Tag dem Kater entgegenzuwirken. Dabei wird vor der Einnahme mit Alkohol ausdrücklich gewarnt. Nun frage ich mich: Von all den Leuten, die nun über Astrazeneca schimpfen, nehmen wie viele regelmäßig ASS? Ich schätze, die Allermeisten. Sind wir also mal ganz optimistisch und nehmen von der Schätzung nur den niedrigsten Wert: 1000 Tote in Deutschland pro Jahr durch ASS. Da ist von den 7 Fällen Astrazeneca gerechnet aber noch Luft, oder?
Kosten-Nutzen-Faktor
Und das ist jetzt nur die absolute Betrachtung. Schauen wir uns das Ganze mal realtiv an: ASS ist zunächst ein (Kopf-)schmerzmittel. Ganz selten wird es medizinisch als Blutverdünner bei bestimmten Krankheiten verwendet. Aber eigentlich ist das Schlimmste, was mir passiert, wenn ich es liegen lasse, etwas unwohlsein bzw. Schmerz. Nicht schön, bitte nicht missverstehen, aber durchaus aushaltbar. Für harte Schmerzen und Migräne gibt es ohnehin andere Stoffe, die dann genommen werden. Bei Astrazeneca sieht die Relation etwas anders aus. Klar, wie bei jeder Impfung ist sie im Idealfall (ich werde mit dem Erreger gar nicht konfrontiert) total unnötig. Das gilt aber auch für eine Haftpflicht- oder Hausratversicherung und sogar die Krankenversicherung und überhaupt jede Versicherung. Trotzdem sind wir Deutschen Versicherungsweltmeister. Und hier passt der Vergleich dann eben sehr gut: Wenn ich nicht versichert bin und der Schaden tritt ein, dann bin ich gekniffen. Eine Krebsbehandlung ohne Krankenversicherung ist praktisch unmöglich zu finanzieren. Bei Astrazeneca ist aktuell die Alternative eben nicht ein anderer Impfstoff, sondern keine Impfung. Denn wir haben nicht genug für alle (schon gar nicht auf der weltweiten Skala!). Also heißt der schlimmste Fall hier nicht „ein Tag Kopfweh“, sondern „eine schwere Krankheit, die im Falle eines schweren Verlaufs Tod oder jahrelange Spätfolgen bedeutet“. Nehmen wir mal an, dass ohne Impfung auf Sicht zwei Drittel der Deutschen infiziert würden. In einem Zeitraum von, sagen wir, fünf Jahren. Nun setzen wir für diese 57 Millionen Menschen mal eine ganz niedrige Quote an und sagen 0,1 Prozent der Fälle bedeuten einen schweren Verlauf mit Spätfolgen oder Tod. Da Astrazeneca nur einer von fünf Impfstoffen ist nehmen wir von dieser Zahl ein Fünftel und haben dann einen Wert. Also knapp 11 Millionen (das Fünftel von 57 Mio nochmal abgerundet) mal 0,1 Prozent, also geteilt durch Tausend – das macht 11.000 Menschen. Im Vergleich zu 7. In Worten SIEBEN. OK, wir müssen, der Fairness halber, hier auch mit 11 multiplizieren (denn wir haben ja 11 Millionen nötige Dosen angenommen, nicht eine Million). Also reden wir von 77:11.000. Fragen? Klar, die Sieben sind sieben Einzelschicksale und irgendwie ist es dann wieder ein Trolley-Problem (dazu hatte ich vor einiger Zeit schon geschrieben), aber ich denke, der Vergleich ist schon recht eindeutig.
Die Gesellschaft als weitere Dimension
Und damit ist es noch nicht vorbei, denn die individuelle Sicherheit ist in diesem speziellen Fall ja nur ein Teil der Medaille. Wir alle erhoffen uns, dass uns die Impfstoffe möglichst bald – hoffentlich bis Herbst – endgültig aus dem Lockdown holen (ich persönlich bin da nur sehr verhalten optimistisch, aber ich kann mich ja irren!). Das heißt: Neben denn 11.000 zu 77 Opfern ohne Impfstoff haben wir auch viel länger mit Lockdown und dessen Folgen zu tun. Diese Folgen sind neben psychischer Belastung (und Todesopfern durch eigene Hand, die nach Schätzungen ebenfalls im vier- bis fünfstelligen Bereich liegen – allein im Lockdown im Frühjahr gab es so viele Selbstmorde, wie sonst in einem ganzen Jahr!) vor allem Armut und die ist in vieler Hinsicht einer der größten Killer überhaupt. Auch in Deutschland ist die Lebenserwartung Armer um Größenordnungen kleiner, als die Reicher. Auch macht eine weiter ramponierte Wirtschaft uns viel anfälliger für andere Krisen. Dass unsere Wirtschaft an und für sich sanierungsbedürftig ist und wir neue Modelle brauchen, darüber gibt es für mich keinerlei Zweifel, aber das soll hier nicht Thema sein.
Bilanz: Wir brauchen die Impfung – AUCH Astrazeneca!
Also schauen wir und das Ganze nochmal in seiner Gesamtheit an. Wir haben einen Impfstoff, der nicht perfekt ist, der aber eine wichtige Säule im Kampf gegen die Pandemie ist. Dieser Impfstoff hat bei manchen Menschen unerwünschte Wirkungen (Nebenwirkungen). Die hat aber praktisch ausnahmslos jedes Medikament. Naja, außer Globoli vielleicht aber die haben dafür auch keine Wirkung, die in Studien nachweisbar wäre und über die von Gebeten hinaus geht. Wir haben eine ganz neue Technologie, die, konsequent weiterverfolgt, tatsächlich das im 20. Jahrhundert ausgerufene Ende der Infektionskrankheiten (weltweit!) bedeuten könnte. Wir sehen uns der größten Herausforderung für unser aller Leben außerhalb von großen Kriegen und katastrophischen Ereignissen (Vulkanausbrüchen oder nuklearem GAU etc.) ausgesetzt. Und wir müssen als Gesamtgesellschaft damit umgehen. Die Quertreiber und -“denker“, die Verschwörungsschwurbler und Aluhutträger sind hier schon genug Belastung für das System, so dass die Maßnahmen oft ins leere greifen. Also sollten zumindest die offiziellen Stellen mit etwas Weitblick agieren und nicht gleich bei jedem Aufjaulen eines „Impfkritikers“ anfangen zu hyperventilieren. Aber dafür haben wir ja nun auch alles getan. Die Taskforce aus Spahn und Scheuer ist ja nun ein Dreamteam der Unfähigkeit. Ich fürchte: Hätte man über alle deutschen Telefonbücher einen Zufallsgenerator laufen lassen und zwei Leute ausgewählt: Dass es schlimmer würde wäre fast ausgeschlossen. Aber das ist ne andere Sache. Der Punkt ist: Wir brauchen jetzt etwas Ruhe in den Entscheidungen, Konsequenz und Durchhaltevermögen. Und wir brauchen auch klare Worte: Wir werden diese Probleme nicht gelöst bekommen, ohne das ein oder andere kleinere oder größere Risiko einzugehen. Ob wir ein Medikament einnehmen, das eben unerwünschte Wirkungen hat (wenn auch weit weniger als ein rezeptfreies Kopfschmerzmittel) oder unsere Wirtschaft und unsere mentale Gesundheit: Wir müssen Opfer bringen.
Lösung? Freiwilligkeit!
Also: Was können wir tun? Aktuell ist die Situation so, dass Risikogruppen zuerst geimpft werden. Das bedeutet, dass die Impfstoffe, die verfügbar sind, durch Listen zugeteilt werden. Welchen ich bekomme, da habe ich kein Mitspracherecht. Nun haben wir einen Impfstoff, den die Menschen offenbar weniger haben wollen. Den dann pflichtmäßig zuzuteilen ist vielleicht nicht ganz fair. Gut. Also könnten wir es doch so machen: Mit den anderen Impfstoffen werden die zugeteilten Impfungen für Risikogruppen absolviert. Das gesamte Astrazeneca wird dann freigegeben und nur an die Leute verimpft, die sich freiwillig damit impfen lassen wollen. Ob man das dann nach „first come, first serve“ macht, oder die Digner verlost oder wie auch immer, das ist dann ne Frage, die noch zu klären wäre. Aber wenn es so weit ist, dass Jeder Zugriff auf den Impfstoff hat – zumindest theoretisch – dann können wir auch darüber nachdenken, dass die Restriktionen für geimpfte Personen nicht mehr gelten. Denn eins ist klar: So lange ich mehr oder minder freiwillig darauf verzichte, mich impfen zu lassen, weil ich eben einsehe, dass Andere gefärdeter sind, bin ich nicht bereit, dann auch noch einen Nachteil in Kauf zu nehmen. Und sollte diese Befreiung für geimpfte kommen, ohne dass ich das auch nur theoretisch beeinflussen kann, bin ich persönlich in Karlsruhe und klage meine Impföglichkeit ein, bevor der Verantwortliche zuende gesprochen hat! Wenn wir Astrazeneca freigäben, dann wäre die Situation eine ganz andere. Achja und bitte nehmt das hier gleich als meine Bewerbung. Ich steh oben auf der Liste. Tiptop erster alles!
Und da ich vorhin weg musste und noch nicht geschafft hatte, das online zu stellen, als die Meldung über die erneute Freigabe über die Ticker lief: Mag nicht mehr 100 Prozent aktuell sein – aber meine Meinung zu dem Thema bleibt es trotzdem, darum hau ich es jetzt raus.
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Danke. 🙂
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